Käßmann sagt in ihrer Predigt, häufig werde der evangelischen Kirche vorgehalten, ihre Haltung sei vor allem in ethischen Fragen nicht eindeutig genug. Doch sei gerade dies die Stärke des reformatorischen Glaubens. Es gebe eben kein Dogma, was der einzelne evangelische Christ zu glauben habe."Das einzelne Gewissen soll geschärft werden", sagte Käßmann laut Redemanuskript: "Ich soll selbst denken." Dazu gehöre auch, verschiedene Positionen und Streit um die Wahrheit auszuhalten: "Das ist Bestandteil evangelischer Lehre." Vielfalt sei jedoch das größere Wagnis gegenüber Vereinheitlichung, betonte die frühere Bischöfin von Hannover, die als Reformationsbotschafterin der EKD für das 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017 wirbt.
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Freiheit im evangelischen Sinne sei aber nie "der Libertinismus, mit dem Freiheit heute allzu oft verwechselt wird", mahnte die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende. Freiheit sei nicht gleichbedeutend mit "Banalisierung und Trivialisierung von Werten und Standpunkten". Sie sei vielmehr bezogen auf die Gemeinschaft. Martin Luthers (1483-1546) Freiheitsbegriff stehe auch hinter den Schlagworten der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Meinungs-, Rede- und Gewissensfreiheit hätten allerdings oft auch "gegen die Institution Kirche erkämpft" werden müssen, räumte Käßmann ein.
Luther nicht als Vorbild für Toleranz
Auch könnten Luther und die anderen Reformatoren nicht für eine Position der Toleranz herangezogen werden. Luther habe auf eine "für uns heute unerträgliche Weise" gegen Juden, Türken und "Papisten" gewettert. "Aber die Kirche der Reformation soll sich ständig weiter reformieren", sagte Käßmann. Heute habe die Kirche begriffen, "dass allzu heftiges Selbstbeharren nicht zum Frieden führt".
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Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sprach beim anschließenden Festakt über "Entwicklung von Identität und Toleranz als ständige kulturelle Herausforderung". Wirkliche Toleranz sei eine aktive Haltung und bedeute, den anderen verstehen zu wollen, sagte Friedrich dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie habe zwei Säulen: Offenheit und Neugierde seien die eine, Klarheit über die eigenen Identität die andere. "Nur wer seine eigene Position kennt und mit sich im Reinen ist, kann etwa belastbare Kompromisse eingehen", betonte Friedrich. Dazu könnten die Kirchen wichtige Impulse geben. Der Staat könne dies nicht verordnen, sagte der Minister.
Der stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende und sächsische Landesbischof Jochen Bohl eröffnete in einem Festakt das Themenjahr 2013 "Reformation und Toleranz" der Lutherdekade. Das zu Ende gehende Themenjahr stand im Zeichen der Kirchenmusik. Die Reformationsdekade dient seit 2008 der Vorbereitung auf den 500. Jahrestag des Thesenanschlags Martin Luthers 1517. Die Stadt Worms und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau werden vom 19. bis 21. April 2013 die "Wormser Religionsgespräche" ausrichten, bei denen neben anderen Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) über das Verhältnis von Politik und Religion sprechen wird.