Foto: Getty Images/Gregory Costanzo
Trauer hat in der heutigen Gesellschaft kaum Platz. Der Leiter des Museums für Sepulkralkultur, Reiner Sörries, stört sich daran, dass es kaum mehr althergebrachteTrauerrituale gibt.
"Hurra, wir leben noch! Das ist der Sinn der Trauerrituale"
Viele Menschen wissen heute nicht mehr, wie sie mit Sterben und Tod in ihrem engsten Familien- und Bekanntenkreis umgehen sollen. Nicht wenige meiden sogar jede Beerdigung. Die Begleitung ihres Angehörigen im Sterben scheint ihnen lästig und unnötig. Alte Trauerrituale sind in Vergessenheit geraten, neue allgemeinverbindliche Rituale aber fehlen. Seit genau 20 Jahren ist das Kasseler Museum für Sepukralkultur die deutsche Topadresse für das Wissen über die Todes- und Sterbekulturen der Menschheit. Ein Gespräch mit dessen Leiter Reiner Sörries.
25.11.2012
Thomas Klatt

"Wie man einen Menschen unter die Erde bringt, das haben die Kinder von Anfang an miterlebt. Wenn Großvater starb, wenn Großmutter starb. Die Kinder haben gesehen, was zuhause passierte. Das musste nicht aufgeschrieben werden. Es brauchte keinen Vorsorgevertrag beim Bestatter!" Reiner Sörries, Leiter des Museums für Sepukralkultur in Kassel, erinnert an den allgemein gültigen Wissens- und Verhaltenskodex am Sterbebett und Grab vor noch gut 100 Jahren.

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Über Generationen eingeübte Rituale waren allgemein bekannt und bedurften keinerlei Diskussion oder Erklärung. Zum Beispiel war klar, dass es im Trauerfall einer eigenen Kleidung, der sogenannten Witwentracht bedurfte. Schwarz signalisierte nach außen, dass eine Frau in der Trauer schutz- und hilfsbedürftig war. Doch gerade die Witwentracht ist für Sörries auch ein gutes Beispiel für die Zwiespältigkeit von Ritualen. Sie können helfen, aber auch ausarten und zur Erschwernis werden. Die Hinterbliebene kam aus ihrer Witwentracht kaum mehr heraus, weil die Trauervorschriften immer weiter verschärft wurden.

"Gott sei Dank gibt es diese Verpflichtung zur Witwentracht nicht mehr. Auf der anderen Seite ist es schade, dass wir heute kaum mehr eine Möglichkeit haben, uns nach außen hin als Trauernde zu erkennen zu geben, was vielleicht auch helfen würde, dass man mit einem Trauernden etwas vorsichtiger umgeht als mit einem Menschen, der im normalen Leben steht", beklagt Sörries.

Möglichst schmerzfrei

Außer in besonders konservativen Brauchtumsinseln auf dem Land besteht heute kaum jemand noch auf das Tragen der Witwen-Kleidung. Die alten Trauerbräuche werden nicht mehr geübt. Dagegen herrscht heute oftmals eine große Rat- und Rituallosigkeit im Sterbe- und Trauerfall. Im Trend sind etwa "Stille Beisetzungen" ohne Ansprache oder Beisammensein der Angehörigen. Der Tote wird nur noch entsorgt. Wenn aber doch Trauerfeiern stattfinden, so werden diese heute möglichst schmerzfrei gestaltet und laufen so ihrem ursprünglichen Sinn zuwider, meint Sörries.

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Denn früher wurde noch laut und unüberhörbar der Sargnagel eingeschlagen, auf dass die endgültige Trennung vom Verstorbenen schmerzlich klar wurde. Der Sarg wurde noch an Stricken in das nackte Erdgrab hinabgelassen. Dann aber wurde die nackte Erde mit Grasmatten ausgelegt, danach kam der hydraulische Versenkapparat, um den Vorgang noch sanfter zu gestalten. Der neueste Trend ist, dass der Sarg in Anwesenheit der Trauergemeinde überhaupt nicht mehr abgesenkt wird, sondern stehen bleibt und die Trauergemeinde weggeht.

"Aber es geht doch um ein Trennungsritual. Da muss ich doch die nackte Erde sehen und mit der Hand Erde hinterher werfen. Das verharmlosen wir auch unter dem Einfluss der Bestatter, die meinen, die Angehörigen schützen zu wollen. Indem wir den Schmerz lindern, verkehren wir das Ritual aber ins Gegenteil", warnt der Trauerexperte.

Acht Jahre im Netz

Wenn man auf alte Rituale nicht zurückgreifen kann oder will, versuchen viele Angehörige neue zu entdecken oder gar zu entwickeln. So gibt es etwa virtuelle Traueranzeigen oder Online-Friedhöfe im Internet. Allerdings verleiten die neuen Medien dazu, in der Trauer zu verharren.

###mehr-artikel### "Ich bin auf eine Seite gestoßen, da war ein Mädchen acht Jahre nach ihrem Tod immer noch im Netz. Auf einem normalen Friedhof verändert sich die Frequenz des Besuches hoffentlich mit der abnehmenden Trauer. Jetzt aber so eine virtuelle Trauerseite nicht mehr zu pflegen oder sie vom Netz zu nehmen, ist ein emotional sehr schwieriger Schnitt. Also verführt diese virtuelle Totentrauergedenkwelt dazu, sehr lange und über die normale Zeit hinaus die eigene Trauer zu pflegen und zu kultivieren."

Heute gibt es eine Vielzahl von Trauergruppen, Trauercafés und Trauerliteratur. Sicher sei es gut, dass Menschen sich heute wieder verstärkt mit dem Tod ihres Angehörigen auseinandersetzten, meint Sörries. Aber die Trauer könnte dadurch unnötig überbetont und verlängert werden. "Es gibt heute Bestatter, die sagen, die Trauer ist das tollste, schönste, geilste, das kreativste Lebensgefühl, das man überhaupt nur haben kann. Sie erzählen, wir müssen unsere Trauer so lange es irgendwie geht ausleben. Wir brauchen einen Trauer-Coach, wir müssen Trauerseminare besuchen. Wer ganz normal trauert, der fällt fast schon auf", sagt Sörries.

Es geht um endgültige Trennung

Ohne klare Rituale, ohne festen Ort oder Zeremonie ergebe sich oft auch ein gutgemeintes aber letztlich hilfloses Agieren. Statt einer zentralen einmaligen Gedenkfeier auf einem Friedhof werde Trauer zunehmend diffuser. "Da gibt es am Unfallort ein Unfallkreuz. Zuhause gibt es ein Hausaltärchen für den Verstorbenen. Das Zimmer des verstorbenen jungen Mannes bleibt unverändert. Dann gibt es vielleicht noch eine Gedenktafel in der Schule, wo er gerade in der Abitursklasse war. Also diese Hilflosigkeit äußert die sich in einem solchen Trauerfluss", erklärt der Leiter des Kasseler Sepukralmuseums.

Sörries geht davon aus, dass es in Zukunft überhaupt keine einheitliche Trauerkultur mehr geben wird. Ein Ritual von Aids-Kranken in der US-amerikanischen Homosexuellenszene seit den 1980er Jahren sei dafür ein prägnantes Beispiel. Die gemeinsame Abschiedsfeier am Bett des Sterbenskranken habe sich mittlerweile in dieser Subkultur etabliert, sei aber kaum als allgemein verbindliches Ritual auf alle Trauerfälle übertragbar. Der Umgang mit dem Tod werde in Zukunft also vermehrt individuell sein. Jeder Angehörige müsse seinen eigenen Weg der Trauer finden, nur sollte dabei der ursprüngliche Sinn jeder Todes-Bewältigung klar sein.

"Es geht immer um die endgültige Trennung vom Verstorbenen und um die Wiedereingliederung der Hinterbliebenen in das Leben. Eine Beerdigung ist dann gelungen, wenn die Trauernden anschließend weggehen, am besten nach dem Leichenschmaus, und sagen: Hurra, wir leben noch! Das ist der Sinn der Trauerrituale", sagt Sörries. "Wir leiden heute in der Trauerkultur darunter, dass wir die Trauer vergötzen, der Trauer einen Selbstwert zuteilen und dabei vergessen, dass der eigentliche Sinn der Trauer darin besteht, dass sich die Trauer selber wieder abschafft."