Foto: dpa/Michael Bahlo
Dieter Graumann im August 2011 in der Bremer Synagoge.
Dieter Graumann: Macher und Mahner
Seit zwei Jahren steht Dieter Graumann an der Spitze des Zentralrates der Juden in Deutschland. In seinem Buch "Nachgeboren. Vorbelastet?" legt er eine Zwischenbilanz vor. Und zeichnet das Bild eines vitalen und vielfältigen Judentums.
30.10.2012
epd
Rainer Clos

Für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland markierte die Wahl von Dieter Graumann zum Zentralrats-Präsidenten 2010 einen Einschnitt. Denn Graumann ist der erste Repräsentant, der die Judenvernichtung durch Nazi-Deutschland nicht selbst erlebt hat. Deshalb war es nicht überraschend, dass er andere Akzente als seine Vorgänger setzt und in seinem Buch erläutert.

Deutlich wird dies schon in einer Anekdote des Buches, in der Graumann verrät, wie er zu seinem urdeutschen Vornamen kam: "Ab heute heißt Du Dieter", beschieden die Eltern Graumann ihren Sohn David. Der Namenswechsel des sechsjährigen Sohnes sollte Mitschülern und Lehrern dessen jüdische Herkunft verbergen, erhofften sich Casia und Salomon Graumann. Biblische Vornamen waren in der Nachkriegszeit noch nicht in Mode.

Der Holocaust darf nicht zum einzigen Motiv für jüdische Identität werden

Erst im Erwachsenenalter beichtet Graumann seinen Eltern, die als Holocaust-Überlebende Judenfeindschaft in der frühen Bundesrepublik fürchteten, dass der Lehrer die Religionszugehörigkeit bei der Einschulung abfragte und Dieter "Jüdisch" angab. Es sind diese ganz persönlichen Erinnerungen und biografischen Notizen, die aus Graumanns Buch haften bleiben.

###mehr-artikel###Die Erinnerung an die Judenvernichtung will der Zentralrats-Präsident jedoch nicht ausblenden: "Die Erinnerung wird schwächer, aber das Gedenken wird stärker." Doch der Holocaust dürfe nicht zur Ersatzreligion, zum einzigen Motiv für jüdische Identität und jüdisches Leben in Deutschland werden, mahnt Graumann, der 1950 in Israel geboren wurde und als Kind mit seinen Eltern nach Frankfurt kam. "Ich wünsche mir hier ein Judentum, das bestimmt niemals unsere Leidensgeschichte vergessen wird, das aber von nun an die positiven Dimensionen des Judentums noch viel stärker pflegt und sich initiativ und kreativ an allen Debatten der Gesellschaft beteiligt."

Dazu nötigt schon die andere Perspektive, die jüdische Zuwanderer aus Russland einbringen: Die meisten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sähen sich nicht als Opfer, sondern als "Sieger über Nazi-Deutschland", beobachtet Graumann. Damit verbunden sei eine ganz neue, selbstbewusste Sicht auf den 8. Mai 1945. Vor diesem Hintergrund rät er auch, sich von dem Dünkel gegenüber "Ostjuden" zu verabschieden, mit dem deutsche Juden in der Vergangenheit auf jüdische Zuwanderer aus Osteuropa herabgeblickt hätten.

Leitmelodie: "eine bunte, lebendige, frische Mischung"

Auskunft gibt Graumann auch darüber, wer ihn für das Engagement in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt gewann: "Ohne Ignatz Bubis wäre ich niemals in der jüdischen Politik gelandet", schreibt er über seinen Mentor. Dessen Auftreten in den Konflikten über das Fassbinder-Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod", den Bitburg-Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan und die Paulskirche-Rede von Martin Walser waren sein politisches "Erweckungserlebnis".

###mehr-galerien####Antijüdischen Ressentiments und überzogener Kritik an Israel liefert der Zentralrats-Präsident Widerrede: Das unsägliche Grass-Gedicht spart er dabei ebensowenig aus wie antisemitische Töne aus der islamischen Gemeinschaft oder die Weigerung des Internationalen Olympischen Komitees, der 1972 in München ermordeten israelischen Sportler zu gedenken. Nicht mehr berücksichtigt ist in dem Buch die heftige Debatte über die Beschneidung jüdischer Knaben, die sich nach dem Kölner Landgerichtsurteil entspann.

Doch Leitmelodie des Graumann-Buches ist die Zukunft des Judentums in Deutschlands: Er wünscht sich eine "bunte, lebendige, frische Mischung" mit Juden aus Deutschland, Russland und der Ukraine, mit Anhängern des orthodoxen, konservativen, progressiven und liberalen Judentums, "machtvoll plural und Hauptsache jüdisch!" Es gebe viele Optionen, sich mit dem Judentum zu identifizieren, ist der 62-jährige Graumann überzeugt: "Für mich selbst wird es immer an allererster Stelle die Religion, der Glaube sein."