Johannesstift-Chef: Diakonie hat bei Heimkindern großen Nachholbedarf
Der Vorsteher des Evangelischen Johannesstifts Berlin, Martin von Essen, sieht anhaltende Versäumnisse der konfessionellen Wohlfahrtsverbände im Umgang mit dem Schicksal von Heimkindern.
20.06.2012
epd
Jürgen Heilig

"Ich erlebe bei vielen Einrichtungen noch eine große Zurückhaltung und die Bereitschaft, das Thema eher zu verschweigen", sagte der Theologe in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Es herrsche noch die Angst vor Imageschädigung vor, kritisierte Essen. Auch im Diakonischen Rat, dem Aufsichtsorgan des landeskirchlichen Spitzenverbandes, gebe es keinen hinreichenden Austausch. "Wir reden lediglich über die Summen, die in den Fonds eingezahlt werden", sagte Essen.

Bund, Ländern und Kirchen haben einen Hilfsfonds von 120 Millionen Euro für ehemalige Heimkinder in westdeutschen Einrichtungen der Nachkriegszeit eingerichtet. Zu Jahresanfang wurden bundesweit Beratungsstellen eingerichtet.

Betreuung behinderter Kinder und Jugendlicher bei Aufarbeitung bisher unberücksichtigt

Ein großes Manko in der Aufarbeitung der Misshandlungen sei, dass bislang die Betreuung behinderter Kinder und Jugendlicher unberücksichtigt geblieben sei. "Diese Menschen waren damals in viel höherem Maße ihren Erziehern ausgeliefert und von ihnen abhängig." Essen kündigte an, hierzu bis Jahresende einen Bericht vorzulegen: "Wir nehmen das ernst und haben kein Interesse, die Dinge zu beschönigen." Gerade im Hinblick auf die heutige Arbeit sei es wichtig, sich "der Verantwortung und Schuld zu stellen".

Als eine der ersten deutschen Einrichtungen hatte das Johannesstift Anfang 2011 aufgrund der intensiven öffentlichen Diskussionen einen ersten Bericht über die Situation von nicht-behinderten Heimkindern in den eigenen Einrichtungen in der Zeit zwischen 1945 und 1970 veröffentlicht. "Falsch war, dass wir diese Studie zunächst nur auf Akten gestützt haben", gestand Vorsteher Essen ein. Stattdessen hätten zeitgleich dazu auch die damaligen Betroffenen sowie Erzieher einbezogen werden müssen. "Das hätten wir anders machen müssen, das war ein Fehler." Auch dieser Bericht mit Aussagen von Zeitzeugen solle bis Jahresende fertiggestellt werden, kündigte Essen an.

Das 1858 im Spandauer Wald gegründete Evangelische Johannesstift gehört zu den großen diakonischen Einrichtungen in Deutschland. Es ist in der Alten-, Behinderten- und Jugendhilfe tätig, betreibt ein Krankenhaus und beschäftigt rund 3.000 Mitarbeiter.