Nur 29 Kilo brachte Henrik (Name geändert) auf die Waage, als er in die Klinik eingeliefert wurde. Bis auf Haut und Knochen hatte sich der 13-Jährige gehungert, der sich selbst wie im Zerrspiegel betrachtete: Obwohl er immer weniger aß und die Kleider am ausgezehrten Körper schlotterten, fühlte er sich noch immer viel zu dick. Henrik ist magersüchtig.
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Ein halbes Jahr später haben ihn die Therapeuten des Pfalzklinikums für Psychiatrie und Neurologie im pfälzischen Klingenmünster auf 34 Kilogramm Gewicht "aufgepäppelt". Kein Grund zur Entwarnung: Noch immer lebe der Schüler aus Frankfurt am Main mit der Angst, viel zu viel Gewicht auf die Waage zu bringen, sagt Jugendpsychotherapeutin Beate Reinders.
Nicht nur Mädchen und junge Frauen steigern sich in die Magersucht - eine gefährliche psychische Erkrankung, die lebensbedrohlich werden kann. Auch bei immer mehr Jungen werde Magersucht diagnostiziert, sagt Reinders. Ein Grund sei, dass Eltern verstärkt Hilfe für ihre betroffenen Söhne suchten. Wie viele Jungen und junge Männer an Magersucht leiden, ist unklar, die Dunkelziffer ist hoch.
"Essstörungen beginnen im Kopf, und das beherrschende Thema ist Kontrolle"
Gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Jugendpsychotherapeutin Mirja Frey, ist Reinders in der psychiatrischen Jugendklinik für die Therapie von Essstörungen zuständig. Psycho- und Körpertherapie sollen den erkrankten Jugendlichen helfen, ein positives Gefühl für ihren Körper zu entwickeln. "Essstörungen beginnen im Kopf, und das beherrschende Thema ist Kontrolle. Wichtig ist die Bereitschaft, etwas ändern zu wollen", sagt Reinders.
Besonders bedeutend sei bei der Behandlung von Magersucht oder Ess-Brechsucht (Bulimie) die Mitarbeit der Eltern und Familien. Regelmäßig laden die Therapeutinnen zu Treffen ein, bei denen sich Angehörige essgestörter Jugendlicher mit anderen Familien austauschen und gemeinsam Strategien für den Alltag entwickeln können.
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Experten gehen davon aus, dass ein Ursachenbündel die Magersucht (Anorexie) auslöst. Eine Heilung ist schwierig: Bei einem Drittel der Patienten nimmt die Krankheit einen lebenslangen chronischen Verlauf. Von diesen sterben einige - das Immunsystem der ausgezehrten Körper versagt, Lungenentzündungen oder andere Begleiterkrankungen enden tödlich, berichtet der Psychotherapeut Andreas Schnebel, Vorsitzender des Bundesfachverbands Essstörungen mit Sitz in München. Ein weiteres Drittel stabilisiert sich auf nicht ganz gesundem Niveau, ein Drittel wird völlig geheilt.
Am Anfang einer Magersucht oder Bulimie steht oft eine Diät. Schnell purzeln die lästigen Pfunde. Lob und Anerkennung motivieren zu weiteren gefährlichen Hungerkünsten. Doch für viele wird das Kalorienzählen, die penible Gewichtskontrolle, zur fixen Idee, zur Sucht. "Sie leiden an einer gestörten Körperwahrnehmung", erklärt Jugendpsychotherapeutin Reinders. Obwohl sie immer schmaler würden, sähen sich Magersüchtige als schwergewichtig.
"Im Supermarkt kann er sagen, wie viel Kalorien die Lebensmittel haben"
Während pubertierende Mädchen den "Topmodels" nacheiferten, so gäben Muskelprotze und Sportskanonen wie der Fußballer David Beckham für Jungs oft das Körperideal vor, sagt Psychologe Schnebel. Um dem Wunschbild zu entsprechen, unterdrücken sie ihren Appetit, treiben exzessiv Sport. Ihr Denken dreht sich nur noch um Essen, Kalorien und Gewicht.
"Beim Gang durch den Supermarkt kann er genau sagen, wie viel Kalorien die einzelnen Lebensmittel haben", erzählt Henriks Mutter. Sie ist verzweifelt, hat vieles versucht, um dem Teenager das Essen wieder schmackhaft zu machen. Doch guter Rat, Drohungen oder Lockmittel wie eine neue Playstation bringen nichts, weiß sie. Henrik blockte ab, trank heimlich große Mengen Wasser, um den Magen zu füllen. "Magersüchtige stemmen sich oft gegen die angebotene Hilfe", weiß seine Mutter.
Hinter dem gesundheitsgefährdenden Perfektionismus der Erkrankten verberge sich ein mangelndes Selbstwertgefühl, sagt Psychotherapeutin Reinders. Wegen seiner "dicken Beine" wurde Henrik von seinen Mitschülern gehänselt, obwohl er nie fettleibig, sondern eher sportlich war, wie seine Mutter berichtet. Auch die Lehrer hätten ihren Jungen kaum unterstützt, sucht sie nach einer Erklärung, warum Henrik vor drei Jahren erkrankte.
Noch immer sei das Thema Magersucht bei Jungen ein gesellschaftliches Tabu, sagt Schnebel. Die Krankheit werde als typische Mädchenkrankheit abgetan. Die Krankenkassen zeigten sich bei der Übernahme der Therapiekosten zwar fast immer kooperativ. Problematisch sei hingegen die bundesweit schlechte und nicht vernetzte Versorgung von Magersüchtigen. Schon im Kindergartenalter müsse den Mädchen und Jungen vermittelt werden, dass ihr Körper mit oder ohne Speckröllchen okay sei, fordert der Psychotherapeut. Damit der Schlankheitswahn sich nicht im Gehirn einnisten kann.