Foto: epd-bild/Rolf Zöllner
Politik ohne Worte
Politik selbst in die Hand nehmen – darum geht es beim jährlichen Planspiel "Jugend und Parlament" des Deutschen Bundestages. Jugendliche aus ganz Deutschland stellen dabei das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren nach. Sie schlüpfen in die Rollen von fiktiven Abgeordneten und simulieren vier Gesetzesinitiativen – und zwar dort, wo auch die "echten" Parlamentarier arbeiten: im Plenarsaal sowie in den Ausschuss- und Fraktionssälen.
17.06.2012
epd
Jasmin Maxwell

Ein runder Sitzungssaal mit Blick auf die Spree, der Sozialausschuss tagt: Nach einem heftigen Wortgefecht stürmen die Abgeordneten der Grünen aus dem Raum. "Wir berufen jetzt eine Pressekonferenz ein", ruft einer von ihnen. Auch Lara Friese springt von ihrem Stuhl auf. Die Politikerin der Partei der Sozialen Gerechtigkeit (PSG) gestikuliert heftig in Richtung der Regierungsparteien. "Das ist keine Demokratie, wenn ihr euch auf eure Mehrheit beruft, und andere Parteien gar nicht zu Wort kommen lasst", übersetzt Gebärdendolmetscherin Andrea Schmegel. Ihre ruhige Stimme passt nicht zu Frieses wütenden Gesten. Nachdem Friese ihrem Ärger Luft gemacht hat, verlässt auch sie den Raum.

Lara Friese heißt eigentlich Clara Belz und ist gehörlos. Für die Veranstaltung "Jugend und Parlament" hat die 16-Jährige die Rolle einer Bundestagsabgeordneten der linken Partei übernommen - inklusive neuem Namen.

"Es ist schon schwierig, in der Opposition zu sein"

An dem Planspiel nehmen über 300 Jugendliche aus ganz Deutschland teil. Die jungen Leute im Alter von 16 bis 20 Jahren spielen an vier Tagen einen Gesetzgebungsprozess durch - von Sitzungen in Fraktionen und Ausschüssen bis zur Abstimmung über das Gesetz im Plenum. Im Ausschuss für Soziales steht das Thema "Freistellung bei akutem Pflegebedarf von Familienangehörigen" zur Debatte - die Abgeordneten verhandeln darüber, wie lange ein Arbeitnehmer sich freinehmen darf, um die Versorgung eines pflegebedürftigen Angehörigen zu regeln.

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Die Diskussion wird heftig geführt, die Mitarbeiter des Besucherdienstes des Bundestages müssen so manches Mal vermitteln. Sie sind es, die die aufgebrachten Grünen und Linken überzeugen, wieder in den Ausschuss zurückzukehren. Auch Clara setzt sich schließlich wieder auf ihren Platz. "Es ist schon schwierig, in der Opposition zu sein. Denn ich will mich einbringen und auch protestieren, wenn etwas nicht so läuft, wie es sollte", sagt sie in einer Pause.

Mitzureden ist trotz ihrer Behinderung kein Problem für das zierliche Mädchen mit der markanten Brille. Clara gehört zu den Wortführern im Raum. Sie wird dabei von mehreren Gebärdendolmetschern unterstützt. Menschen mit einer schweren Behinderung haben einen gesetzlichen Anspruch auf eine solche Assistenz am Arbeitsplatz. Am Montag sind es drei Frauen, die sich beim Dolmetschen alle fünfzehn Minuten abwechseln - das Übersetzen einer hitzigen Debatte ist anstrengend.

"Nur Behindertenpolitik? Das ist eine Stigmatisierung. Ich habe auch andere Interessen"

Clara macht auch im wahren Leben und unter ihrem echten Namen Politik. In ihrer Heimatstadt Mahlow in Brandenburg ist sie Mitglied der Jungen Grünen. Als Teilnehmerin bei "Jugend und Parlament" konnte sie sich ihre Partei nicht aussuchen - wohl aber, in welchem Ausschuss sie sitzt. Mit Sozialpolitik kenne sie sich aus, sagt Clara. "Ich habe schließlich von klein auf viel Kontakt zu Menschen mit Behinderungen."

Sie will aber nicht nur Behindertenpolitik machen. "Das ist eine Stigmatisierung. Ich habe auch andere Interessen." Umweltschutz gehört dazu, ebenso wie Wissenschaft und Forschung. Später könne sie es sich gut vorstellen, in die Politik zu gehen, sagt sie.

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Im Bundestag sind Politiker mit Behinderung eine Ausnahme. Wie viele es gibt, wird nicht erfasst - den Pressestellen der Fraktionen sind nur zwei körperlich behinderten Parlamentarier bekannt: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und der Linken-Abgeordnete Ilja Seifert, die beide Rollstuhlfahrer sind. In der FDP-Fraktion sitze außerdem ein Abgeordneter, der stottere, heißt es aus der Pressestelle. Schäuble und Seifert gehen höchst unterschiedlich mit ihrem Handicap um: Während Seifert Behindertenpolitik zu seinem Schwerpunkt machte, konzentriert sich Schäuble auf andere Themen. Das trug ihm in der Vergangenheit Kritik von Behindertenverbänden ein.

Clara sinkt nach der Ausschusssitzung tief in ihren Stuhl und lässt ihren Kopf gegen die Lehne sinken. Die Opposition konnte sich mit nur einem ihrer Vorschläge durchsetzen, die Regierungsparteien waren wenig kompromissbereit. Sie werden das Gesetz bei der Plenardebatte am Dienstag ohne die Stimmen der Opposition verabschieden. Clara freut sich dennoch auf die Sitzung im Reichstagsgebäude. Auch dabei, sagt sie, will sie natürlich wieder mitdiskutieren.