Foto: Nina Lischtschuk
Kondome mit dem Bild von Viktor Janukowitsch.
Die Ukraine: Menschen zwischen Frust und Lethargie
Von Julia Timoschenko sind die meisten Ukrainer enttäuscht. Als Ministerpräsidentin hat sie es nicht geschafft, den Lebensstandard in der Ukraine zu verbessern. Das spielte Viktor Janukowitsch in die Hände, der die Demokratie schrittweise abbaut. Doch Protest regt sich kaum - viele Ukrainer wollen von Politik nichts wissen.

Die Stimmung auf dem Boulevard Kreschtschatik in Kiew ist ausgelassen. Von einer Tribüne schallt die Uefa-Hymne "Endless Summer", auf Plakaten lächeln die EM-Maskottchen Slavek und Slavko. Für die EM hat die Stadt Kiew die Prachtstraße in eine Fanzone verwandelt, nichts soll den Touristen die Laune vermiesen. Knapp einhundert Meter weiter ein ganz anderes Bild: Unterstützer von Julia Timoschenko haben auf dem Gehweg dreißig Zelte aufgebaut. Vor den Zelten flattern weiße Fahnen mit einem roten Herz - das Zeichen von Timoschenkos Partei "Heimat".

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Das Zeltlager steht direkt vor dem Bezirksgericht Petschersk, wo Timoschenko im September zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Katarina Odartschenko kommt fast jeden Tag zu den Zelten am Kreschtschatik. Wenn die 21 Jahre alte Studentin nicht gerade Flyer verteilt, steckt sie den Kopf in die Zelte und spricht ihren Mitstreitern Mut zu. "Wir gehen hier erst weg, wenn Timoschenko frei ist", sagt die junge Frau mit den halblangen braunen Haaren.

Auf der Hauptstraße Kreschtschatik haben Timoschenkos Unterstützer Zelte aufgebaut. Foto: Nina Lischtschuk

Die Fußgänger laufen gleichgültig an den Zelten vorbei, kaum einer interessiert sich für die Flugblätter der Aktivisten. In Umfragen schafft es Timoschenkos "Heimat"-Partei nur auf 15 Prozent, die Partei der Regionen von Präsident Viktor Janukowitsch liegt mit 19 Prozent vorne. Die meisten Ukrainer sind von Timoschenko enttäuscht. Einst war die Frau mit dem blonden Zopf angetreten, um Korruption, Vetternwirtschaft und Sowjetbürokratie zu bekämpfen. Doch als Ministerpräsidentin lieferte sie sich einen Privatkrieg mit ihrem früheren Kampfgenossen Präsident Viktor Juschtschenko. Reformen blieben auf der Strecke, das Lebensniveau in der Ukraine verbesserte sich kaum. "Die Köpfe der Orangenen Revolution haben sich diskreditiert", sagt Andreas Umland, Politologe an der Mohyla Akademie in Kiew.

"So schlimm wie in Weißrussland ist es noch nicht"

Von dem Zwist im "orangenen" Lager profitierte Janukowitsch, er gewann im Februar 2010 die Präsidentenwahlen. "Seitdem wird die Demokratie Stück für Stück abgebaut", sagt Sergej Melnitschenko. Der 32 Jahre alte Mann mit der zerschlissenen Jeans und dem gestreiften Hemd saß im März 15 Tage lang im Gefängnis. Sein Verbrechen: Er hatte zusammen mit anderen Aktivisten auf der Straße Kondome verteilt - eine Protestaktion gegen Janukowitsch. Auf den Präservativen war das grimmige Gesicht des Präsidenten abgedruckt. Die blaue Verpackung hatte Melnitschenko mit dem Slogan "Achtung Partei der Kondome" beschriften lassen - eine Anspielung auf Janukowitschs Partei der Regionen. "Die Leute fanden unsere Aktion lustig", erzählt Melnitschenko. Die Polizei hatte keinen Sinn für Humor. Als Melnitschenkos Gruppe die Kondome verteilte, rückte die Spezialeinheit "Berkut" an und nahm die Störenfriede fest. Melnitschenko landete vor Gericht und wurde zu mehr als zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Seine Mitstreiter kamen mit einer Geldstrafe davon. Im Gefängnis aber hatten die Wärter Verständnis für Melnitschenko. "Die wollten auch meine Kondome haben."

Sergej Melnitschenko gehörte zu den Organisatoren der Orangenen Revolution. Foto: Nina Lischtschuk

Für die Regierung sind Aktivisten wie Melnitschenko nicht gefährlich, einflussreiche Oppositionspolitiker schon. Neben Timoschenko landeten mehrere Minister der orangenen Regierung im Gefängnis. Darunter Innenminister Juri Lutsenko, Umweltminister Georgi Filiptschuk und Verteidigungsminister Waleri Iwaschtschenko. "Janukowitsch hat Angst, in einigen Jahren selbst vor Gericht zu stehen und will sich deshalb seiner Feinde entledigen", sagt Politologe Umland. Um die kleinen Fische kümmert sich der Ukrainische Sicherheitsdienst SBU. Ein Blogger musste zum Verhör, weil er sich auf seiner Webseite über Janukowitsch lustig gemacht hatte. Eine ukrainische Reporterin der Deutschen Welle bestellte der SBU zu einer "Befragung". Die Journalistin hatte ein Praktikum im Deutschen Bundestag absolviert und sollte Informationen über deutsche Abgeordnete preisgeben. Einen Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ließ der SBU bespitzeln, weil er Berichte über die kriminelle Vergangenheit des Präsidenten geschrieben hatte. Trotz Einschüchterung durch Geheimdienst und Justiz: "So schlimm wie in Weißrussland ist es in der Ukraine noch nicht", sagt Dozent Umland.

"Europa darf uns nicht vergessen"

Janukowitsch muss auch keine Proteste fürchten wie in Weißrussland, wo im Dezember 2010 zehntausende den Rücktritt von Diktator Alexander Lukaschenko forderten. "In der Ukraine herrscht Lethargie", sagt Aktivist Melnitschenko. Er steht auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz und deutet auf das Postgebäude. Auf einer Säule sind die Parolen der Orangenen Revolution unter Plexiglas noch immer erhalten. Melnitschenko hatte die Proteste im Herbst 2004 mitorganisiert. "Ich habe die Zelte besorgt, in denen die Demonstranten kampierten." Damals gründete er mit anderen Oppositionellen das "Komitee der Orangenen Revolution". Das Komitee existiert heute immer noch - die Aufbruchstimmung aber ist verflogen. "Von Politik wollen die meisten Ukrainer nichts wissen", sagt Melnitschenko. Die Menschen hätten den Eindruck, sowieso nichts verändern zu können. "Beruf, Familie und das eigene Überleben sind ihnen am wichtigsten."

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Sozialen Halt suchen die Ukrainer auch in den Kirchen des Landes. Rund 75 Prozent der Ukrainer gehören der orthodoxen Kirche an, die sich in die Ukrainisch-Orthodoxe und die Russisch-Orthodoxe Kirche aufteilt. Im Westen des Landes ist die Griechisch-Katholische Kirche am weitesten verbreitet. Aus der Politik halten sich die Kirchen im Wesentlichen heraus. Die Russisch-Orthodoxe Kirche unter dem Moskauer Patriarchen Kyrill hat Unterstützer in der Partei der Regionen. Bei seiner Amtseinführung ließ sich Präsident Janukowitsch nach Russisch-Orthodoxem Ritus segnen. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, der Patriarch Filaret vorsteht, wird unter anderem vom orangenen Lager unterstützt. Julia Timoschenko besuchte jedes Jahr die Ostermesse in der Wladimir-Kathedrale in Kiew, die zum Kiewer Patriarchat gehört.

Im Oktober stehen in der Ukraine Parlamentswahlen an. Die Oppositionsparteien haben sich unter Arsenij Jatseniuk zu einem Bündnis zusammen geschlossen. Doch Jatseniuk, der unter der Timoschenko-Regierung Parlamentssprecher und Außenminister war, gilt als farblos. Ihm fehlt das Charisma eines Politikers, Experten bezweifeln, dass er die Ukrainer mitreißen kann. Von den Zeitungen wird der intelligent wirkende junge Mann mit der Brille als "Häschen" verspottet. Katarina Odartschenko macht sich sorgen um die Zeit nach der EM. Sie fürchtet, dass die Partei der Regionen die Wahlen gewinnen könnte und die Ukraine in die Isolation gerät. "Europa darf uns nicht vergessen", mahnt sie.