Rund 500.000 Menschen werden in diesen Tagen zur Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier erwartet. Vom frühen Morgen bis in die Abendstunden pilgern die Menschen zu der Reliquie in der Kathedrale der ältesten deutschen Bischofsstadt. Andächtig blicken sie in den Schrein aus Zedernholz, der durch eine Glasplatte bedeckt mitten in dem Gotteshaus steht. Sie verharren, falten ihre Hände oder legen sie sachte auf das Glas. In der Luft liegt ein weihevolles Schweigen.
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Der heilige Rock ist ein Gewand, das auf der sichtbaren Vorderseite aus rötlich-braunem Tuch besteht. Die Reliquie enthält der Überlieferung nach Fragmente des Untergewandes, das Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung getragen haben soll. Nach dem Johannesevangelium wurde der Leibrock, da er ohne Naht gewebt war, von den Soldaten nicht wie üblich geteilt, sondern verlost. Damit sollte sich das Schriftwort aus Psalm 22,19 erfüllen: "Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand."
Der Legende nach brachte Helena, Mutter Konstantins des Großen, den heiligen Rock im 4. Jahrhundert nach Trier. 1196 schloss Erzbischof Johann I. die Reliquie im Hochaltar des damals neu errichteten Ostchors im Dom ein. Die Wallfahrtstradition setzte paradoxerweise erst ein, als sich Luther anschickte, die Reformation ins Werk zu setzen: 1512 wollte Kaiser Maximilian I. bei einem Trier-Aufenthalt den Rock in Augenschein nehmen, worauf der Altar geöffnet wurde. Auch das Volk begehrte daraufhin, die Reliquie zu sehen.
Wollfasern und zerbröckelnder Filz
Ob der heilige Rock tatsächlich Teile des Gewandes Christi enthält, lässt sich heute wissenschaftlich nicht mehr feststellen. Seit 1959 müssen die Katholiken nicht mehr an die historische Echtheit der Reliquie glauben. Was in diesen Tagen in Trier präsentiert wird, besteht aus mehreren Gewebeschichten aus verschiedenen Zeiten. Forscher vermuten, dass die äußere Hülle aus der Zeit um 1512 stammt. Das Gewebe im Kern dieser Schichten besteht aus Wollfasern, die heute einen teils zusammenhängenden, teils zerbröckelnden Filz bilden, so die Berner Textilhistorikerin Mechthild Flury-Lemberg in einer Expertise. Nur dieser Filz gilt als die eigentliche Reliquie.
Was aber sind Reliquien überhaupt? Die katholische Kirche kennt drei Klassen. Die erste sind Skelettteile heiliger Menschen. Die zweite sind sogenannte Berührungsreliquien – Dinge, die mit ihnen in Kontakt gekommen waren. Die dritte sind Dinge, die mit den Skelettteilen in Berührung kamen. Dann gibt es als Sonderklasse die biblischen Reliquien – etwa Kreuzpartikel, die Sandalen Jesu oder seine Windeln. Spötter behaupten, allein mit den Holzteilen ließen sich zwölf Kreuze anfertigen. Auch vom heiligen Rock gibt es Dutzende Exemplare.
Für Luther waren Reliquien nichts anderes als "tot Ding". Er störte sich vor allem an dem schwunghaften Handel mit den Gegenständen, von denen sich die Gläubigen Hilfe gegen Seelenqualen und Existenzängsten erhofften – gegen bares Geld. Allein Erzbischof Albrecht von Brandenburg bezifferte seinen "Gnadenschatz" auf 39 Millionen Jahre Ablass. Doch auch gestandene Protestanten hingen dem Reliquienglauben an: Ausgerechnet Friedrich der Weise, Luthers Förderer, besaß eine der größten Sammlungen der damaligen Zeit. Gegenwert: immerhin noch zwei Millionen Ablassjahre.
Bei der Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 gibt es keinen Ablass. Das Bistum Trier hat ausdrücklich darauf verzichtet, um kein Öl ins konfessionelle Feuer zu gießen. Für den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider, ist zudem wichtig, dass nicht der Eindruck entsteht, statt Jesus Christus werde eine Textilie angebetet. Schneider spricht von "fremden Formen des Glaubens und der Frömmigkeit" sowie von einem "ökumenischen Risiko". Dennoch wirbt er für eine Beteiligung auch evangelischer Christen an der Wallfahrt.
Und geht dabei mit gutem Beispiel voran. Am 5. Mai, dem Tag der Ökumene bei der Wallfahrt, gestalten Protestanten, Orthodoxe, Freikirchler und Katholiken gemeinsam einen Tauferinnerungsgottesdienst im Trierer Palastgarten. Schneider und der örtliche Superintendent Christoph Pistorius sind dabei. "Unsere Beteiligung an der Wallfahrt ist über alle Ebenen hinweg besonders ausgeprägt", sagt Pistorius und verweist vor allem auf die Veranstaltungen in der evangelischen Konstantinsbasilika. Auch unter den Helfern der seien viele evangelische Christen.
Internetseite des Bistums Trier
Netzauftritt der Heilig-Rock-Wallfahrt
Informationen des evangelischen Kirchenkreises Trier
Schon vom Auftakt der Heilig-Rock-Wallfahrt am 13. April zeigten sich die leitenden Protestanten angetan. Den Eröffnungsgottesdienst habe sie "sehr gut mitfeiern" können, sagte Oberkirchenrätin Barbara Rudolph von der rheinischen Landeskirche und lobte vor allem die Predigt des kanadischen Kurienkardinals Marc Ouellet, der Papst Benedikt XVI. vertrat. Bei den Vorbereitungen sei sie durchaus noch unsicher gewesen, ob das Bistum den ökumenischen Schwerpunkt der Wallfahrt werde durchsetzen können, so Rudolph. Die Theologin war bis 2009 Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK).
Schon das Wallfahrtsmotto "Und führe zusammen, was getrennt ist" hat einen deutlichen ökumenischen Anstrich. Der ungeteilte Rock verweise auf die ungeteilte Kirche, sagt Pistorius. "Die Einheit ist uns in Christus geschenkt, und wir können sie nicht zertrennen, so sehr wir auch das Bild Christi verdunkeln." Der Rock sei ein "sehr starkes Bild, das uns Mut macht, einander neu wahrzunehmen und auch auszuhalten mit den Dingen, die uns fremd sind". Der Superintendent verweist auf die Pilgertradition, die in den vergangenen Jahren in der evangelischen Kirche neu aufgelebt ist.
"Verstehe die Vorbehalte sehr gut"
Doch nicht jeder Protestant begeistert sich für Reliquien und Pilgerwesen. "Ich verstehe auch die Vorbehalte sehr gut", sagt Barbara Rudolph. "Diese werden auch bestätigt werden bei der Wallfahrt." Es sei eine "klare Botschaft", dass viele Protestanten nicht hingingen. "Das ist Bekenntnis. Es ist aber auch Bekenntnis, dass andere der theologischen Diskussion mit den Katholiken an dieser Stelle nicht ausweichen."
Abseits der theologischen Diskussionen wartet die Heilig-Rock-Wallfahrt mit beeindruckendem Merchandising auf. Im Verkaufszelt gleich am Trierer Dom gibt es neben einem uferlosen Angebot an Kerzen und T-Shirts auch "Wallfahrers Schweißtuch", Mürbeplätzchen namens "Wallfahrers Stärkung" oder Brotbeutel zu kaufen – und natürlich die Tunika aus Alabastergips in allen möglichen Ausführungen, zum Preis von 9,40 bis 15,50 Euro. In der roten Plastikversion, die günstiger zu haben ist, sieht der Rock ein wenig aus wie eine Aids-Schleife.
Nicht nur der heilige Rock, sondern auch die "Unterhose von Karl Marx" wird gegenwärtig in Trier präsentiert. Das Kunstwerk soll nach Angaben des Künstlers Helmut Schwickerath ein provozierendes Gegenstück zu der Reliquie sein. Foto: dpa/Fredrik von Erichsen
Die katholischen Wallfahrer freuen sich über die Beteiligung der evangelischen Christen. "Der ökumenische Aspekt ist toll", sagt Walter Borsch aus Gillenfeld in der Eifel. Das Wallfahrtsmotto sage schon alles. "Ich bin offen. Ich stehe zu meinem Glauben, akzeptiere aber auch das Andere." Der 56-Jährige hat einen roten Helferanorak an, kurz vor dem Eröffnungsgottesdienst gab es eine Einsegnung für die Helfer. "Für mich ist das eine wunderbare Sache", sagt Borsch begeistert. "Ich bin ein Fan von Chef und Chefin – das ist die Muttergottes."
Manche Trierer sehen die Heilig-Rock-Tage hingegen von der satirischen Seite. Solche Veranstaltungen seien das "Befremdlichste und Skurrilste", was die katholische Kirche je hervorgebracht habe, sagt etwa der örtliche Künstler Helmut Schwickerath. Er stellt während der Wallfahrt ein Triptychon mit der "wiederentdeckten Unterhose von Karl Marx" aus. Die fleckige Buchse, nach katholischer Definition eine Berührungsreliquie, sorgte schon bei der Heilig-Rock-Wallfahrt 1996 für Aufsehen. Ob sie tatsächlich dem in Trier geborenen Urvater des Sozialismus gehörte, ist genauso wenig erwiesen wie die Echtheit des Rocks im Dom.
Was wäre am 13. Mai, wenn die Heilig-Rock-Tage zu Ende gehen, eine gute Bilanz aus evangelischer Sicht? Christoph Pistorius würde sich wünschen, "dass wir sagen können: Wir haben miteinander ein fröhliches Fest des Glaubens gefeiert." Ein Fest der römisch-katholischen Kirche, das die Protestanten als Freunde gerne mitgefeiert haben. "Ich würde mir auch wünschen, dass uns das frei und unbefangen macht im Zugehen auf 2017 – und dass wir das Gedenken an die Reformation in gleicher Weise miteinander begehen können."