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"Gut leben" heißt auch "mit-menschlich teilen", meint der EKD- Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider.
Die verdammte Pflicht zur Verantwortung
Kurz vor der "Rio+20"-Konferenz geht es bei einem Kongress in Berlin um Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Teilnehmer repräsentieren ein breites Spektrum: von den Gewerkschaften über Umweltschützer bis zur evangelischen Kirche.

Sie kommen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Richtungen und sind sich doch einig: Tosenden Applaus erhält der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, beim "Transformationskongress" am Freitag in Berlin: "Was Märkte wollen, darf nicht zum Leitbild eines guten Lebens werden", hatte Schneider zuvor in seiner Eröffnungsrede gefordert. Was ein gutes, gerechtes und ökologisch tragfähiges Leben in Zeiten allgegenwärtiger Krisen ausmacht, diskutiert bis Samstag eine ungewöhnliche Allianz: Geladen haben Einrichtungen der evangelischen Kirche, Gewerkschaften und Naturschützer, gekommen sind knapp 900 Teilnehmer.

Forderung nach einer "Ethik des Genug"

Die Konferenz soll ein Anstoß für eine breite öffentliche Debatte sein - dies insbesondere mit Blick auf die anstehende UN-Konferenz "Rio+20", die ganz ähnliche Themen verhandelt. "Wir leben in einer Zeit, in der wir ernsthaft zu Veränderungen kommen müssen", mahnt Schneider. Er fordert eine "Ethik des Genug". "Gut leben" heiße nicht nur "viel haben", sondern auch "solidarisch leben" und "mit-menschlich teilen". Es schreie zum Himmel, "dass unvorstellbare Summen auf den Finanzmärkten verdient werden, während jeden Tag 25.000 Menschen sterben, weil wir es nicht schaffen, medizinische Ressourcen und Nahrungsmittel so zu verteilen, dass alle Menschen leben können", sagt der Theologe.

Zugleich übt er scharfe Kritik am herrschenden Finanzsystem: Er werde nicht akzeptieren, "dass Spekulation als produktive Arbeit daherkommt", empört sich Schneider. Auch die wachsende Ungleichheit in Deutschland dürfe nicht ignoriert werden, die Schere zwischen Arm und Reich habe sich in den vergangenen Jahren immer weiter geöffnet.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, erklärte, die Veranstalter wollten einen Beitrag leisten, dass "die Umkehr endlich eingeleitet wird". Dazu müssten die Finanzmärkte "an die Kette gelegt werden" und eine "reale, ressourcenschonendere und umweltgerechtere Wirtschaft geschaffen werden". Demokratische Politik müsse das Primat über die Wirtschaft wiedererlangen, fordert er.

Auszehrung der Zukunft beenden

Aus der Sicht von Michael Müller, Präsidiumsmitglied des Deutschen Naturschutzrings (DNR), befindet die Welt sich nicht mehr "nur" in einer Krise: "Es endet eine Epoche, die im Wesentlichen mit der Hoffnung auf Wachstum Probleme gelöst hat." Weder das "Sparen über alles", das Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vertritt, noch eine Politik, die in traditionelles Wachstum zurückfalle, könne nun helfen. Ziel müsse nun sein, die "Auszehrung der Zukunft zu beenden", sagte der frühere Staatssekretär im Bundesumweltministerium.

"Alternativen funktionieren", erklärte die Trägerin des Alternativen Nobelpreises Vandana Shiva am Beispiel der ökologischen Landwirtschaft. In Projekten mit indischen Bauern steige der Ertrag, je mehr die Farmer auf Biodiversität setzten. Shiva wandte sich gegen eine "Religion des Wachstums". In Indien gebe es ungeachtet der Jahre enormen Wachstums so viele Hungernde wie nie zuvor.

Mehr Reichtum nützt nichts, mehr Gleichheit hingegen schon

Einen Hinweis, wo die Probleme der Weltgesellschaft liegen, gibt der britische Forscher Richard Wilkinson, der den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und sozialem Versagen einer Gesellschaft analysiert. Je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich in einem Land, desto größer die Probleme, lautet sein Fazit - und das unabhängig vom Pro-Kopf-Wachstum. So stiegen in besonders ungleichen Gesellschaften wie etwa den USA so unterschiedliche Faktoren wie gesundheitliche Probleme, psychische Krankheiten, Mordraten und Umweltverschmutzung deutlich an. Mehr Reichtum nütze also nichts, mehr Gleichheit hingegen schon, bilanziert Wilkinson.

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Es sind große Fragen, die der Kongress stellt. Angesichts der Unterschiede und nicht immer reibungsfreien Geschichte ihrer Initiatoren werden nicht überall einheitliche Antworten erwartet. Gleichwohl setzt DGB-Chef Sommer darauf, ein "tatsächliches Bündnis zu schaffen". Schneider bezeichnet es als "unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dass wir Verantwortung gemeinsam wahrnehmen". Müller schließlich sieht im Kongress einen Impuls für eine stärkere Zivilgesellschaft, die es in diesen Zeiten nötig brauche. Der Kongress unter dem Motto "Nachhaltig handeln, Wirtschaft neu gestalten, Demokratie stärken" geht am Samstag zu Ende. Zum Abschluss werden unter anderem Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) und SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier erwartet.