Frau M. hat blaue Flecken. Das fällt den Mitarbeiterinnen der Tagespflegestätte, in der sie einige Stunden in der Woche betreut wird, sofort auf. Ja, ihre Tochter sei aggressiv geworden, habe sie mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, offenbart sich die alte Dame schließlich. "Ich könnte dich vom Balkon schmeißen", habe die Tochter gedroht, mit der sie in einer kleinen Wohnung lebt. Jetzt will Frau M. auf keinen Fall mehr zurück, sondern in ein Heim. Kein Einzelfall, betonen Experten. Auf das Problem machen Pflegeverbände am 15. Juni aufmerksam. Dann ist der weltweite Tag gegen Diskriminierung und Misshandlung alter Menschen.
Der Fall von Frau M. droht zu eskalieren. Deshalb nutzen die Pflegekräfte die Unterstützung eines auf Gewalt gegen alte Menschen spezialisierten Krisentelefons. Die Beraterin hilft mit juristischem und pflegefachlichem Rat. Sie versteht auch die Angehörigen, kennt deren Überforderung durch die oft jahrelange und aufreibende Pflege.
Meist suchen die betroffenen Familienmitglieder selbst Rat bei Konflikten, berichtet der Gerontopsychiater Professor Rolf-Dieter Hirsch. Er ist Gründer der ersten Einrichtung dieser Art vor 15 Jahren, der "Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter". Sie wendet sich auch gegen Fesselungen von Pflegebedürftigen und den umstrittenen Einsatz von Psychopharmaka in Kliniken und Heimen.
Jeder Fünfte hat gewalttätiges Verhalten in Pflege erlebt
Hirsch ist auch Vorsitzender des Bundesverbands dieser Krisentelefone und Beratungs- und Beschwerdestellen für alte Menschen. Zu einer Tagung der Krisentelefone werden an diesem Mittwoch in Berlin über 300 Fachleute erwartet. Anlass ist der "Welttag gegen Diskriminierung und Misshandlung alter Menschen" am 15. Juni.
Auf der Tagung geht es auch um den spektakulären Fall der 2007 zu lebenslanger Haft verurteilten Krankenschwester Irene B., die in einer Klinik vier Menschen getötet hat. Hier zeigt sich, welche fatalen Folgen es haben kann, wenn Misshandlungen ignoriert werden. Als B. noch nicht im Verdacht stand, einen Kranken durch eine Spritze getötet zu haben, war schon gemeldet worden, dass sie Patienten schlug. Doch die Vorgesetzten warteten erst einmal ab.
Das oft tabuisierte Thema Gewalt ist im pflegerischen Alltag weit verbreitet. Das zeigt eine im Mai vorgestellte Forsa-Umfrage im Auftrag des Zentrums für Qualität in der Pflege. Danach hat jeder fünfte Bundesbürger bereits aggressives oder gewalttätiges Verhalten in der Pflege erlebt. Von den Befragten mit Pflegeerfahrung sind sogar mehr als ein Drittel in eine solche Situation geraten. Allerdings wissen nur wenige, welche Hilfs- und Unterstützungsangebote im Notfall genutzt werden können.
Erste Leitlinien zum Umgang mit Gewalt in der Pflege
Das Thema gewinnt an Aufmerksamkeit, stellt auch Professor Hirsch fest: "Wir werden mehr gefragt. Und Heime rufen von sich aus an, das wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen." Im häuslichen Bereich, wo zwei Drittel aller Pflegebedürftigen leben, liege die Ursache von Gewalt häufig in "einer seit Jahrzehnten gewachsene Hassliebe, egal ob das Ehepartner oder Kinder sind". Es geht jedoch um mehr als Schläge, zu den Misshandlungen zählen auch Vernachlässigung, materielle Ausbeutung sowie die Einschränkung des freien Willens des Pflegebedürftigen.
"Es gibt viel Verzweiflung in den Familien", weiß Professor Hirsch. Er fordert mehr professionelle Angebote zur Hilfe. 17 Einrichtungen in elf Bundesländern gehören zu seinem Verband. In Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Bremen und im Saarland finden sich nach seinen Worten gar keine Ansprechpartner.
Immerhin: Die ersten Ärztekammern haben Leitlinien zum Umgang mit Gewalt in der Pflege veröffentlicht. Für ambulante Pflegedienste werden derzeit spezielle Fortbildungen erarbeitet. Das Projekt läuft unter dem Titel "Potenziale und Risiken in der familialen Pflege alter Menschen". Es wird vom Bundesfamilienministerium finanziert. Der Abschluss ist für 2013 geplant.