Sie waren, bevor Sie nach Griechenland entsandt wurden, Pfarrer in Costa Rica und Chile. Wie ist es jetzt für Sie, in Europa Pfarrer zu sein?
René Lammer: Es fühlt sich auch an wie in Europa zu sein. Ich genieße den unglaublichen kulturellen Reichtum des Landes, die relative Sicherheit und die bei allem doch kurzen Distanzen. Aber in vielem erinnert Griechenland auch mehr an Lateinamerika als an Deutschland. Das fängt beim Autoverkehr an und hört bei der Zuverlässigkeit von Verabredungen noch lange nicht auf. Ich denke daran, wie Griechen und Latinos ihr Leben organisieren: Es wird häufiger improvisiert als nach festen klaren Regeln organisatorisch wasserdicht vorzugehen. Die Griechen haben eben eine südeuropäische Mentalität, die auch in Lateinamerika zu finden ist. Diese Mentalität setzt sich oft von der disziplinierteren nordeuropäischen ab. Weshalb man die Griechen auch nicht mit deutschen Maßstäben beurteilen sollte. Dann wird man der Geschichte und der Mentalität dieses Landes nicht gerecht. Ich fände es auch einfach nur schrecklich, wenn die Griechen nun in der Europäischen Union zu Preußen würden.
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Die deutschen Politiker sind in Griechenland richtige Hassfiguren. Können Sie das nachvollziehen?
Lammer: Ja, man fühlt sich nicht richtig verstanden und da gibt es unter anderem auch ein Kommunikationsproblem. Die Deutschen sind Wortführer in dem, was die Troika hier fordert und was die Europäische Union darstellt. Und sie werden deshalb direkt mit den Sparmaßnahmen identifiziert. In den Kommentaren der deutschen Presse lese ich beispielsweise Sätze wie: 'Wir helfen den Griechen.' Und die Griechen sagen: 'Mit euren Rettungspaketen rettet ihr vielleicht eure Banken, aber nicht einen der Jugendlichen hier, die einen Job suchen.' Die Arbeitslosigkeit, die Steuern, die Verelendung haben sich in einem Umfang erhöht, der beispiellos ist. Zusammengefasst heißt das: Die deutsche Seite denkt, 'Wir helfen Euch, seid doch mal dankbar. und tut selbst etwas' und die andere Seite sagt: 'Bitte, wo helft ihr uns denn? Und seht Ihr denn nicht, wie viel gespart wird und wie alles immer nur noch schlimmer wird?'
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Hat es auch was mit dem gekränkten Stolz der Griechen zu tun, dass sie die Deutschen jetzt als Nazis karikieren?
Lammer: Sicherlich hat es auch etwas mit ihrem gekränkten Stolz zu tun. Die Griechen fühlen sich von der deutschen Presse, aber auch von deutschen Politikern despektierlich beurteilt. Dann kommen natürlich alte Ressentiments hoch: Die Deutschen sind hier Besatzer gewesen im zweiten Weltkrieg. In manchen Regionen haben sie gewütet und viele Frauen, Kinder und Greise umgebracht. Fast eine halbe Million Menschen kam in dieser Zeit ums Leben. Das deutsche Herrenmenschentum, das hier über mehrere Jahre lang in Griechenland herrschte, hat Sätze hinterlassen wie: 'Das sind arbeitsscheue Gesellen, kein Wunder dass es hier nicht vorwärts geht.' Und wenn dann heute von deutschen Politikern solche Kommentare kommen, die diese Erinnerung wach rufen, dann sind hier Empfindlichkeiten berührt. Deswegen kann man hier gerade in der Wortwahl nicht vorsichtig genug sein.
"Merkel ist mittlerweile der schlimmste Schimpfname hier"
Bekommen Sie und Ihre Gemeindemitglieder die Ressentiments zu spüren?
Lammer: Es kommt darauf an, mit wem man spricht. Ich frage die Leute, die hier schon über Jahrzehnte leben, häufig: 'Wie erfahrt ihr die Stimmung?' Einige können tatsächlich Beispiele für ein zunehmend gereiztes Klima nennen. Beispielsweise hat eine Frau erzählt, sie werde mit 'Merkel' beschimpft. Das ist mittlerweile der schlimmste Schimpfname, dem man hier zurzeit jemandem geben kann. Aber andere sagen, sie sehen noch eine Deutschfreundlichkeit bei den Griechen, die zum Teil beschämend sei. Gerade im Hinblick auf die oben genannte Geschichte. Man kann also entgegengesetzte Reaktionen gegenüber den Deutschen spüren. Ich würde aber sagen, dass die meisten Menschen zwischen deutscher Politik und dem Deutschen, dem sie gerade gegenüber sitzen, deutlich zu unterscheiden wissen. Was auch logisch ist, weil sie ja auch mit ihren eigenen Politikern harsch ins Gericht gehen. Sehr viele Griechen sind furchtbar enttäuscht darüber, was in den letzten 20 bis 30 Jahren passiert ist.
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Wie hat sich die Situation Ihrer Gemeindemitglieder während der Krise verändert?
Lammer: Wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Lage gehen immer mehr Leute nach Deutschland. Wer jetzt eine Chance hat zurückzugehen, und sei es auch nur, um dort Sozialhilfe-Empfänger zu werden, oder ein Jobangebot hat, der geht nach Deutschland. Das ist ein eindeutiger Trend.
Fällt es den Leuten leicht zu gehen?
Lammer: Nein, das ist für viele eine Tragödie, da werden auch Familien auseinandergerissen. Wir haben sehr viele, wo ein Ehepartner Grieche ist und der andere Deutscher. Und manchmal bleibt der Grieche dann eben hier und der Deutsche geht nach Deutschland. Auch Ältere müssen aus wirtschaftlichen Gründen gehen. Das ist eine Entwurzelung, die tragisch ist.
"Es ist die Verarmung, die so schmerzhaft und bedrückend ist"
Als Pfarrer hören Sie sich die Sorgen der Menschen an: Wenn sie das mit anderen Gemeinden vergleichen, welche speziellen Anliegen haben ihre Gemeindemitglieder in Athen?
Lammer: Die soziale Komponente, der diakonische Bereich, hat ganz stark zugenommen. Neulich war ein junger Mann bei mir, der erzählte: 'Ich habe jetzt zwei Jahre meine Mutter gepflegt, wir haben von ihrer kleinen Rente gelebt. Jetzt ist sie verstorben und ich habe gar kein Geld mehr: Wie kann es weiter gehen?' Und das ist was, was ich in dieser Massivität auch in Lateinamerika nicht erlebt habe. Es ist nicht nur die Armut, es ist die Verarmung, die so schmerzhaft und bedrückend ist. Nachdem es ja vorher so eine Pseudoblüte gegeben hat, wo viele Konsumgüter herein gekommen sind durch die vielen Kredite, die geflossen sind und durch die Mitgliedschaft in der EU und der Eurozone, bricht das jetzt plötzlich zusammen und wird zurückgefahren. Der Nettoverdienst schrumpft manchmal bis zu 50 Prozent, es gibt Rentenkürzungen, Steuererhöhungen, für die meisten wird es immer enger. Denn jetzt sind auch die eisernen Reserven langsam aufgebraucht. Die Luft zum Atmen wird immer dünner und dieser Kontraktionsprozess und die fehlende Perspektiven wirken sich deprimierend auf die Menschen aus.
René Lammer mit den ehrenamtlichen sozialdiakonischen Gemeindehelfern der Gruppe „GebenGibt“. Foto: privat
Wie betreuen sie die Menschen jetzt?
Lammer: Wir haben eine Gruppe ehrenamtlicher diakonischer Gemeindehelfer gegründet, die bewusst Menschen aufsuchen und begleiten. Sie helfen psychologisch, organisieren aber auch ganz tatkräftige Hilfe. Ein anderer Faktor ist auch: 90 Prozent der illegalen Einwanderung in Europa geht über Griechenland, das ist den Leuten in Deutschland oft gar nicht bewusst. Entsprechend bekommen wir auch hier immer Fälle, die über unsere Gemeinde laufen. Beispielsweise haben wir einen Kongolesen, der in Deutschland aufgewachsen ist und dann abgeschoben wurde in den Kongo. Jetzt versucht er wieder zurückzukommen. Das sind solche ganz dramatischen Einzelschicksale. Es war immer schon schlimm hier für illegale Ausländer, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass ganze Gebiete von Athen regelrecht verslumen, weil da lauter Illegale unter erbärmlichen Verhältnissen leben.
Welche Rolle können Sie als Vertreter der Kirche in der Krise spielen?
Lammer: Neben dem sozialdiakonischen Engagement, mit dem wir einfach versuchen, Menschen konkret weiterzuhelfen in wirtschaftlichen wie psychologisch extrem schwierigen Situationen, ist eine andere Form, so etwas wie Brückenkopf des Verständnisses zu sein. Eine Brücke zwischen Griechen und Deutschen zu bauen, damit die gröbsten Vorurteile nicht einfach so gedankenlos wiederholt werden. Die Menschen sollen anfangen zu differenzieren und die Menschen zu sehen. Wir haben ja viele Besucher aus Deutschland. Wir versuchen zu zeigen, wie wir die Realität sehen und wahrnehmen. Und werben für Verständnis auf beiden Seiten. Eine der wichtigen Aufgaben zur Zeit.
"Sich nicht auf die düstere Stimmung im Land fixieren"
Haben Sie einen positiven Blick auf die Zukunft?
Lammer: Hinsichtlich des Landes bin ich schon besorgt, aber ich kann nichts damit anfangen, wenn überdramatische Äußerungen gemacht werden. In einer renommierten deutschen Zeitung haben ich gelesen: 'Wenn die Griechen die Drachme einführen, dann ist das so viel wie Selbstmord aus Angst vor dem Tod' und 'Die Griechen stehen jetzt vor dem Abgrund'. Diese dramatisierten Äußerungen finde ich wenig hilfreich. Man denkt: Ja, was soll denn dann sein? Seit zwei Jahren lebt man mit diesem Damoklesschwert, sodass viele Leute jetzt schon sagen: 'Lasst das Damoklesschwert endlich mal fallen, damit wir aus den Trümmern endlich wieder etwas aufbauen können.' Diese ständige Belastung, die zerrt schon an den Nerven der Leute - und an meinen auch.
Sie sind noch vier bis sieben Jahre in Griechenland. Was haben Sie sich vorgenommen für die kommenden Jahre?
Lammer: Wir werden miterleben und miterleiden, was in Griechenland passiert, und darin dann auch immer ganz zuversichtlich und fröhlich unsere Arbeit machen. Wir haben jetzt gerade eine Photovoltaikanlage bei uns auf dem Kirchendach installiert, weil wir denken, das ist eine Richtung, in die es weitergehen könnte. Ökonomisch wie ökologisch. Wir wollen in dieser Situation Zeichen setzen, um zu zeigen: Es geht in eine Zukunft, die soziale Perspektiven wieder eröffnet und ökonomische Potenziale ausschöpft. In der Gemeindearbeit ist meine wesentliche Aufgabe, einen Generationenwechsel zu fördern. Während unseres diesjährigen 175-jährigen Gemeindejubiläums haben wir viel für und mit Kindern gemacht, Theater, Musik und Kinderwochenende. Es sind Aufbrüche da und ich hoffe, dass sich unsere Vorstellungen auch umsetzen lassen. Aber wir sind zuversichtlich, auch unter schwierigeren Bedingungen kleine Hoffnungsfunken zu entzünden. Unsere Kirche liegt sehr schön am Rande des Zentrums von Athen, da finden viele Konzerte statt. Und es gibt ja auch viel Normalität trotz aller Krise und viele schöne beglückende Begegnungen. Die gilt es auch bewusst wahrzunehmen und sich nicht einfach nur zu fixieren auf die düstere Stimmung im Land.