Bekanntlich lässt sich über Geschmack trefflich streiten. Doch es gibt Themen, gegen die kein Argument ankommt: Liebe und Tod gehören dazu. Michael Haneke behandelt sie in seinem Film "Amour" mit solcher Sensibilität und Meisterschaft, dass sich die übrigen 21 Beiträge im Wettbewerb der 65. Internationalen Filmfestspiele von Cannes geschlagen geben mussten.
Mit seltener Einigkeit und stehender Ovation wurde deshalb die Vergabe der Goldenen Palme an den 70-jährigen österreichischen Regisseur begrüßt. Nur drei Jahre nach seinem Triumph mit "Das weiße Band" erhielt Haneke am Sonntagabend erneut den Hauptpreis des wichtigsten Filmfestivals der Welt. Er reiht sich damit ein in eine Riege von nur sieben Regisseuren, denen diese zweifache Auszeichnung gelang.
"Amour" handelt von letzten und absoluten Dingen, dem Alter, der Hinfälligkeit und dem Wunsch zu sterben. Dennoch ist es kein Film, der Euthanasie und Sterbehilfe effektheischend ins Zentrum rückt. Vielmehr verfolgt "Amour" zurückhaltend und einfühlsam den schwierigen und schmerzlich einsamen Weg zum Tod. Seine nachhaltige Wirkung verdankt der Film nicht zuletzt seinen beiden Hauptdarstellern, den beiden großen alten Stars des französischen Kinos, der 85-jährigen Emmanuelle Riva und dem 81-jährigen Jean-Louis Trintignant. Die Wettbewerbsjury in Cannes unter dem Vorsitz des italienischen Regisseurs Nanni Moretti widmete die Goldene Palme denn auch ausdrücklich Regisseur und Darstellern zusammen.
Dritter Jurypreis für Ken Loach
Jenseits des einhelligen Zuspruchs für "Amour" spiegelten die übrigen Preise einen Jahrgang der kleinen und größeren Enttäuschungen wider. Die mit Spannung erwarteten Literaturverfilmungen wie David Cronenbergs "Cosmopolis" nach Don De Lillo oder Walter Salles' Adaption des Beat-Generation-Klassikers "On The Road" ließen im Ergebnis zu wünschen übrig. Deutlich wie nie traten die Nachteile der Einladungspolitik von Cannes hervor, bei der man am liebsten auf Regisseure zurückgreift, die schon einmal da waren. Die mangelnde Entdeckungsfreude schlägt sich mit beschämender Deutlichkeit in der Tatsache nieder, dass in diesem Jahr sämtliche Preisträger schon einmal als solche auf der Bühne des Palais Lumiere gestanden haben - oft mit besseren Filmen.
So etwa der Italiener Matteo Garrone, diesmal mit dem Großen Preis bedacht für seine flache Mediensatire "Reality", der denselben Preis 2008 für seinen beeindruckenden "Gomorrah" erhalten hatte. Oder der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas, nun als bester Regisseur für sein experimentell-strenges und verstörendes Familiendrama "Post Tenebras Lux" geehrt, der 2007 für "Stellet Licht" mit dem Jurypreis ausgezeichnet worden war.
Den bereits dritten Jurypreis seiner Karriere nahm der Brite Ken Loach entgegen. In seiner allzu putzigen Komödie "The Angel's Share" lässt er straffällige Jugendliche die Welt des Whiskys entdecken. Der für sein politisches Engagement bekannte Regisseur erfüllte auf seine Weise die Erwartungen und rief in seiner Dankesrede zur Solidarität mit denen auf, die "in diesen dunklen Zeiten der Sparpolitik Widerstand leisten".
US-amerikanische Produktionen gehen leer aus
Auch beim besten Drehbuch griff die Jury auf einen Cannes-Veteranen zurück: Der rumänische Regisseur Cristian Mungiu war die Entdeckung des Jahres 2007 gewesen, als er für sein Abtreibungsdrama "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" die Goldene Palme erhielt. Nun wurde er für "Beyond the Hills" geehrt, einem dichten Drama um Exorzismus und Glauben, das auf einer wahren Geschichte beruht, an die Intensität des Vorgängerfilms aber nicht herankommt. Trotzdem hob die Jury "Beyond the Hills" noch besonders hervor, indem sie die beiden Hauptdarstellerinnen, Cosmina Stratan und Cristina Flutur, als beste Schauspielerinnen auszeichnete.
Zum besten männlichen Darsteller schließlich wurde der Däne Mads Mikkelsen gewählt. Mikkelsen spielt in Thomas Vinterbergs "The Hunt" einen unschuldig des Kindesmissbrauchs verdächtigten Kindergärtner.
Dass keine der US-amerikanischen Produktionen überzeugte, stimmte hinter den Kulissen bedenklich. Die Masse der überzeugten Filmfans aber trauerte um einen anderen leer ausgegangenen Beitrag: Leos Carax' von Fantasie überbordende Identitäts-Farce "Holy Motors". Der Film, so reich an Einfällen wie an Ambition, vitalisierte einen in all seiner Ehrwürdigkeit zu erstarren drohenden Wettbewerb. Allein dafür hätte ihm ein Preis gebührt.