Nachdem im ersten Halbfinale des Eurovision Song Contest in Baku mit Belgien, Österreich und der Schweiz gleich drei Grand-Prix-Nationen der ersten und zweiten Stunde rausgeflogen sind, sieht der Beitrag für das Finale am Samstag folgendermaßen aus: zwei Ulknummern aus Irland und Russland, je zwei ethnisch inspirierte Popsongs von den freundschaftlich verbundenen Bruderländern Zypern und Griechenland sowie Rumänien und Moldawien, eine angerockte Weltverbesserungs-Hymne aus Ungarn, ein zeitlos-altmodisches Ich-hätte-es besser-wissen-sollen-Lied einer dänischen Multkulti-Gruppe, eine mystische Hoher-Norden-Ballade aus Island und ein eurovisions-anschreiendes Kunstwerk aus Albanien.
Das zweite Halbfinale ist übrigens deutlich stärker besetzt. Hier der Überblick über alle Startnummern:
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Startnummer 1: Der Serbe Željko Joksimovi? fuhr bei der Eurovisions-Premiere seines Heimatlandes nach den Balkankriegen 2004 als Sänger und Komponist einen phänomenalen zweiten Platz ein. Zwei Jahre später holte er für Bosnien-Herzegowina – der Landstrich, der in den 90ern am meisten unter den Serben zu leiden hatte – als Komponist mit dem dritten Platz das beste Ergebnis des Landes. 2008 moderierte er den Wettbewerb in Belgrad. Diesmal singt er mit der wunderbaren balkanesischen Ethno-Ballade "Nije ljubav stvar" – auf Deutsch in etwa: Meine Liebe ist keine Sache - eines der stärksten Lieder beim ESC. Aber eine knappe Woche nach dem Sieg eines Nationalisten bei den serbischen Präsidentschaftswahlen sind seine Siegchancen eher gering.
Startnummer 2: Als 1996 ihr gewähltes Lied für die Eurovisions-Premiere von Mazedonien nicht nach Oslo durfte und sie sich ungefähr in dieser Zeit außerdem von ihrem Mann trennte, verlor Kaliopi Bukle die Stimme. Die hat sie mittlerweile längst wieder gefunden und ihren Mann auch - jedenfalls für die Eurovision 2012. Er komponierte ihr "Crno i belo" auf den wohlbekannten Leib, sie schrieb den Text für das Lied über Schwarz und Weiß. Das Ergebnis ist eine grandiose Power-Ballade - und außerdem hat sie eine drollige schweizerdeutsche Anmutung, wenn sie fließend Deutsch spricht.
Startnummer 3: Die Lieder der Niederländer in den vergangenen Jahren sind mir ein komplettes Mysterium, da braucht es gar keine Sängerin im türkisfarbenen Abendkleid und gefiedertem Indianer-Kopfschmuck. Stets scheinen sie auf der Suche nach der guten alten Zeit, als man auch am Eurovisions-Samstag zu sehen war. Das letzte Finale der Niederländer ist lange her. Joan Franka ist mit ihrem "You and Me" in den 70ern und im Wilden Westen unterwegs. Diesmal könnte es was werden für unser Nachbarland. Echt waar.
Startnummer 4: Nach vielen Misserfolgen soll es für Kurt Calleja aus Malta mit "This Is the Night" die Nacht seines Lebens werden. Die Chancen stehen gut. Allein die Beinarbeit der Tanz-Routine verdient schon ein paar Punkte.
Startnummer 5: Nachdem Weißrussland im vergangenen Jahr seine Sängerin mit "I Love Belarus" versichern ließ, dass sie ihre Heimat liebe, heißt das Lied der Gruppe "Litesound" diesmal "We Are the Heroes". Die waren in der weißrussischen Vorentscheidung eigentlich nur Zweite. Deshalb musste Präsident Alexander Lukaschenko herausfinden lassen, dass am Belarus-Televoting in diesem Jahr herumgefingert worden war. Und Wahlbetrug ist mit dem letzten Diktator Europas nicht zu machen. Aber Vorsicht: Vielleicht ist die gesungene Helden-Selbstverehrung dieser erfolgreichen Gruppe, die schon ein paar Mal den ersten Platz bei der Vorentscheidung verpasste, doch aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Schließlich wollen die Träumer in ihrem Text Mauern einreißen, vielleicht auch die letzte auf unserem schönen Kontinent? Manchmal muss man sich so verbiegen, als würde die Schwerkraft ihre Anziehung verlieren. Der Satz ergibt Sinn, wenn man beim Lied gut aufpasst.
Startnummer 6: Die Portugiesen tragen alljährlich dazu bei, dass aus dem Eurovision Song Contest nicht der English Song Contest wird. Da ich jedem Lied in nicht-englischer Muttersprache von vornherein erstmal 200 Zusatzpunkte geben würde, bekommt auch "Vida minha" von Filipa Sousa eine positive Erwähnung.
Startnummer 11, die Sängerin Loreen aus Schweden. Foto: Jens Gesper
Startnummer 7: Einem ukrainischen Nationalisten war die gebürtige Kieverin Gaitana aufgrund ihres kongolesischen Vaters als Vertreterin der Ukraine "zu schwarz", dabei war die bezaubernde und nette Sängerin mit ihrer Einladungs-Hymne "Be My Guest" in Baku zu jeder Zeit die beste Öffentlichkeitsarbeit, die ein Land haben konnte. Besonders die Ukraine kurz vor der Fußball-Europameisterschaft.
Startnummer 8: Die Roma-Nachtigall Sofi Marinova singt für Bulgarien "Unlimited Love". Englisch ist aber nur der Titel, der Text ist zumeist Bulgarisch. Und dann gibt es noch Versicherungen vom Kaliber "Ich liebe dich" auf Arabisch. Und auf Aserbaidschanisch. Und auf Französisch. Und auf Griechisch. Und auf Italienisch. Und auf Romanes. Und auf Serbokroatisch. Und auf Spanisch. Und auf Türkisch.
Startnummer 9: Wenn die Slowenin Eva Boto "Verjamem" singt, dann heißt das: Ich glaube. Es geht allerdings nur um den Glauben an eine verloren gegangene Liebe. Der serbische Eurovisions-Gewinnerlied-Komponist Vladimir Grai? und der bosnische Hari Mata Hari - mit einem dritten Platz ebenfalls mal auf dem Treppchen gewesen - lassen die ehemalige jugoslawische Schwesterrepublik an den Sieg glauben. Ein Song Contest in einem Euro-Land machte Manches in den Zeiten der niedrigsten Notierung der Gemeinschaftswährung seit Jahren einfacher und berechenbarer.
Startnummer 10: Mit Nina Badri? singt für Kroatien ein echter Balkan-Star ihr Lied "Nebo" und damit über den Himmel. Dabei geht es tatsächlich um den aus religiösen Erwägungen wichtigen Himmel, nicht um den für Meteorologen: "Sve ti nebo vrati, netko gore to vidi sve." Oder auf Deutsch: Der Himmel revanchiert sich immer, jemand dort oben sieht alles. Wenn die wunderbare Quelle http://diggiloo.net nicht irrt.
Startnummer 11: "Euphoria" - eine düstere Euphorie im Schneesturm - hätte für Schweden absolutes Gewinnerpotential, wenn seine Interpretin Loreen sympathischer und begeisterter rüberkäm’. "Ach, Kate Bush tanzt so wie ich?", wunderte sich die Tochter marokkanischer Berber, als sie auf ihre unkonventionellen Bewegungen und deren mögliche Inspiration angesprochen wurde. Dabei erblickte Lorine Zineb Noka Talhaoui in Stockholm erst das Licht der Welt, als Kate Bush bereits jahrelang erfolgreich durchs Showgeschäfte zappelte.
Startnummer 12: Für Anri Jokhadze aus Georgien und sein "I'm a Joker" gilt hundertprozentig das Gleiche wie für Montenegro am Dienstag. Sogar die Choreographie ist ähnlich inspiriert. Allerdings nervt er nicht mit mysteriösem Deutsch, sondern erfreut mit mysteriösem Georgisch in der ersten Strophe. Zum allerersten Mal ist diese Sprache im Eurovision Song Contest zu hören.
Startnummer 13: Wenn Can Bonomo in den Pressenkonferenzen auf sein Judentum und mögliche Schwierigkeiten zuhause wegen seiner Eurovisions-Aufgabe angesprochen wurde, dann machte der in Izmir geborene 25-Jährige, der mit "Love Me Back" ein Liebeslied für Seemänner singt, klar: Er segle unter der Fahne seiner Heimat, und das sei die Türkei.
Startnummer 14: Fast so kraftvoll wie Johnny Logan vor 25 Jahren befahl "Halt' mich jetzt", fordert Ott Lepland in seinem "Kuula" zum Hören auf. Der estnische Imperativ in Balladenform könnte gern im Finale ein Ausrufezeichen setzen.
Startnummer 15: Weil der Slowake Miroslav Šmajda nicht mehr den zu poppigen Ansprüchen seines bei "Tschechen und Slowaken suchen einen Superstar" verdienten Plattenvertrags nachkommen möchte, heißt er jetzt Max Jason Mai und rockt "Don't Close Your Eyes". Wenn man die ersten 42 furchtbaren Sekunden überstanden hat, wird’s besser.
Startnummer 16: Wie für fast alle Interpreten in Baku war auch die Anreise des Norwegers Tooji weit. Er wurde allerdings vor knapp 25 Jahren im Nachbarland Iran geboten. Obwohl sein Titel "Stay" heißt, wollten seine Eltern offenbar nach der Grünen Revolution nicht im Iran bleiben und verließen mit dem Einjährigen das Land. Der Mann, der so schön wie ein Bollywood-Film ist, feiert am Final-Samstag seinen 25. Geburtstag. Machen die Televoter und Jurys Touraj Keshtkar das schönste Geschenk?
Startnummer 17: MayaSar heißt eigentlich Maja Sarihodži? und hat sich selbst für diesen Song Contest das Lied "Korake ti znam" komponiert und getextet, nachdem sie schon 2004 und 2011 als Chorfrau für ihr Land dabei war. "Ich kenne deine Manöver" lautet ungefähr die Titel-Übersetzung der hübschen Ballade über eine unglückliche Liebe.
Startnummer 18: Irgendwie wirkt Donny Montells "Love Is Blind" wie ein zweiter Aufguss des litauischen "Love" von Sasha Son aus dem Jahr 2009. Aber wenn sie damit auch in diesem Jahr – trotz der glitzernden Augenbinde des Sängers in der Crystal Hall Baku - den Weg ins Finale finden, freut’s mich.
Als sehr schöner Pausen-Act dürfen anschließend Dima Bilan, Marija Šerifovi?, Alexander Rybak und Lena Meyer-Landrut in einem aserbaidschanisch arrangierten Medley ihre jeweiligen Eurovisions-Siegerlieder der vergangenen Jahre anstimmen – bevor alle zusammen mit Nigar Camal und Eldar Qas?mov, den Gewinnern von 2011, Abbas "Waterloo" singen. Diese eurovisionäre Sternstunde macht zweierlei deutlich. Erstens: Nicht jeder Sieger wird ein Klassiker. Zweitens: Es wird immer wieder gute Möglichkeiten geben, den eigenen Triumph zu versilbern. Auch wenn es ansonsten im Scheinwerferlicht-Job gerade nicht so gut läuft.