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Protestantismus und Spiritualität: Was durchs Herz geht
Der protestantische Glaube ist wie ein Pendelschlag, sagt Theologieprofessor Peter Scherle. Neben der Weltverantwortung wird nun die Spiritualität eingefordert. Auch im Gottesdienst. Mit Blick auf den biblischen Bericht über Pfingsten ist Protestantismus und Spiritualität ein spannendes und spannungsreiches Thema.

Gilt für den evangelischen Gottesdienst heute noch, was die Apostelgeschichte (2,17) über das erste Pfingstfest in Jerusalem berichtet: "Als sie aber das hörten, ging's ihnen durchs Herz"? Folkert Fendler, Leiter des Zentrums der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst im Hildesheimer Michaeliskloster, antwortet: "Ich hoffe. Vielleicht könnte es noch mehr sein, das durchs Herz geht."

Spiritualität ist im protestantischen Umfeld ein relativ neuer Begriff. Und wenn es um Spiritualität und Gottesdienst geht, dann zucken nicht nur reformierte Pfarrer zusammen. Schließlich wird der Mensch "allein aus Gnade" von Gott gerecht gesprochen. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig der Vorrang des Wortes. Auch im Gottesdienst. Aber trifft das auch noch den Menschen von heute, der sich in einer immer pluralistischer werdenden Welt immer einsamer, ja verlorener vorkommt? Und spricht nicht der durchschnittliche Gottesdienstbesuch von gerade mal rund drei Prozent der erwachsenen evangelischen Christen eine deutliche Sprache?

Die Frage nach der Mitte des Lebens

Der Bonner Pfarrer Joachim Gerhardt, Autor von "Engel der Bibel begleiten dich", steht der Spiritualität im Gottesdienst alles andere als skeptisch gegenüber. Die Liturgie des Gottesdienstes sei voller Spiritualität, vor allem dann, wenn sie sorgfältig vorbereitet und in den gesamten Gottesdienst eingebettet wird. Allerdings dürfe sie nicht gegen die Predigt ausgespielt werden. "Liturgie und Predigt müssen aus der gleichen Quelle schöpfen", sagt Pfarrer Gerhardt, der zugleich Lehrbeauftragter für "Spiritualität und Management" an der Evangelischen Fachhochschule Bochum.

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Was ist Spiritualität? Pfarrer Gerhardts Antwort: "Spiritualität fragt nach der Mitte in unserem Leben, nach dem Herz aller Dinge. Sie ist Quelle und Wurzel unserer Aktivitäten und Beziehungen. Die Frage nach Spiritualität ist eine sehr persönliche und greift zugleich über konfessionelle oder religiöse Grenzen hinaus." Mehr Spiritualität im Gottesdienst steht für viele Theologen im Verdacht der Wellness.

"Ich habe nichts dagegen, dass man sich im Gottesdienst wohlfühlt", sagt Folkert Fendler, "aber das ist etwas anderes als ein Wellness-Gottesdienst, den ich selbstverständlich ablehne." Außerdem: Ist die Gefahr nicht groß, dass Spiritualität in Esoterik abgleitet? Pfarrer Gerhardt, der die Predigt als "spirituellen Höhepunkt eines jeden Gottesdienstes" bezeichnet, sieht das Risiko sehr wohl: "Wir müssen immer wieder die Quellen der Spiritualität genau prüfen."

Wie evangelisch ist eine Wallfahrt?

Fragt man evangelische Christen nach spirituellen Ereignissen der Kirche, dann antworten die meisten ganz spontan: "Die Kirchentage." Aber auch "Taizé" oder "Pilgerweg". Schließlich ist nicht nur Hape Kerkeling "dann mal weg", es machen sich zunehmend auch evangelische Christen auf den Weg nach Santiago de Compostela. Es gibt auch einen evangelischen Pilgerweg von Loccum nach Volkenroda. Und die Evangelische Kirche im Rheinland beteiligt sich neuerdings in ökumenischer Verbundenheit an der "Heilig-Rock-Wallfahrt" in Trier – was freilich nicht wenigen Protestanten am Rhein schwer im Magen liegt. Gleichwohl stammt der wohl größte Mystiker des reformierten Pietismus, Gerhard Tersteegen, aus dem niederrheinischen Moers.

"Wenn die Verkündigung des Evangeliums mystisch geprägte spirituelle Erfahrungen zu inspirieren und zu korrigieren vermag, ist gegen solche Erfahrungen nichts einzuwenden", stellte schon vor einiger Zeit der Leipziger Dogmatiker Peter Zimmerling fest. Für den Trierer Pfarrer Christoph Urban war die Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 eine "Christuswallfahrt". Welche spirituelle Bedeutung sie für die evangelischen Teilnehmer gehabt habe, könne nur jeder einzelne für sich beantworten.

EKD würdigte die spirituelle Gemeinschaften bereits 1979

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde die ursprünglich evangelische Gemeinschaft von Taizé (bis 1969 war katholischen Christen die Mitgliedschaft untersagt) zum Inbegriff für protestantische Spiritualität der Gegenwart. Ihre Gesänge haben längst Eingang in evangelische (Jugend-)Gottesdienste gefunden.

Auch die im Freikirchlichen beheimateten Lobpreislieder finden zunehmend Eingang in evangelische Gottesdienste und Andachten. Fernöstliche Meditationen sind im protestantischen Bereich nicht länger tabu, der Dalai Lama erfreut sich großer Zustimmung und selbstverständlich auch der katholische Pater Anselm Grün. Auf ökumenischer Ebene bestehen Kontakte zu den gemäßigten Pfingstkirchen.

Weithin in Vergessenheit geraten ist, dass bereits 1979 die EKD eine Denkschrift über die "Evangelische Spiritualität" veröffentlicht hat (und 2007 ein Votum des Rates zur Stärkung geistlicher Spiritualität). Darin würdigt sie die - inzwischen zahlreichen - protestantischen und ökumenischen Kommunitäten (Glaubensgemeinschaften) als eine legitime Ausprägung biblisch-reformatorischen Christseins, als Orte spiritueller Übung und Erfahrung.

Dennoch bleiben Protestantismus und Spiritualität auch weiterhin ein Spannungsfeld - auch im Gottesdienst. Steht im Mittelpunkt der evangelischen Spiritualität die persönliche Beziehung zu Jesus Christus und ihre biblische Rückbindung, ist gegen sie nichts einzuwenden. Entscheidend dabei ist, dass dann die gesuchte individuelle Vervollkommnung als Gnade zu erreichen versucht wird, nicht durch spirituelle Übungen oder Techniken.

"Keine quantitativen Ziele"

"Als sie aber das hörten, ging's ihnen durch Herz." Wird das Zentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst das im Impulspapier 2006 der EKD von der "Kirche der Freiheit" gesetzte Ziel erreichen und den Gottesdienstbesuch auf eine Zehn-Prozent-Beteiligung zu steigern? Folkert Fendler sagt, darum geht es nicht: "Wir haben keine quantitativen, sondern qualitative Ziele."

Für Wilfried Härle ist der Gottesdienst kein Event, sondern Gottesbegegnung, wie der Heidelberger Dogmatiker auf dem rheinischen Missionale-Treffen 2012 deutlich machte. Folkert Fendler möchte hingegen beides nicht gegeneinander ausspielen: "Das erste Pfingstfest war ein großes Event." Und wie steht es mit den Engeln, die in protestantischer Spiritualität hoch im Kurs stehen? Pfarrer Joachim Gerhardt: "Es gibt keinen Engelglauben. Engel helfen, uns den Weg zu Christus zu finden."

Und was Pfarrer Gerhardt von den Engeln sagt, gilt weithin auch nach wie vor für die Spiritualität: "Unter Theologen gewinnt man mit Engeln keinen Blumentopf. In der Gemeinde aber sind sie beliebt. Übrigens auch bei vielen Menschen, die der Kirche fernstehen."

Steht eine spirituelle evangelische Kirche gegen die weithin verkopfte evangelische Kirche? Die Frage ist nicht zu beantworten. Jedenfalls zieht das Spirituelle schon äußerlich zunehmend in den protestantischen Gottesdienst ein. Viele Pfarrer tragen über dem 1811 vom preußischen König verordneten schwarzen Talar längst eine bunte Stola oder bevorzugen an hohen Feiertagen gleich einen weißen oder cremefarbenen Talar. Die evangelische Kirche wird bunter. Äußerlich und innerlich. Hoffentlich geht es den Protestanten durchs Herz – das Evangelium.