Vor mehr als 35 Jahren haben Sie mit dem Buch "Gottesvergiftung" eine wuterfüllte Abrechnung mit dem christlichen Gott geschrieben. Wo stehen Sie heute?
Tilmann Moser: Gott spielt für mich heute keine Rolle mehr. Er lässt mich in Ruhe und ich ihn. Durch meine Patienten ist das Thema aber virulent heftig vorhanden. Es gibt nach wie vor Verstrickungen mit einem Schuldgefühl-Gott, einem Sünde-Gott. Dieses Gottesbild gilt es zu entneurotisieren. Also nicht zu beseitigen, sondern zu schauen, ob auch noch gutartige Aspekte da sind.
Sind Sie milder geworden?
Moser: Ich kenne immer noch Stimmungen, in denen ich es als ungeheuerlich empfinde, was die Kirche angerichtet hat, an Angst, Schrecken, Drohungen und Schuldgefühlen. Gegen bestimmte Aspekte der Kirche kann ich schon polemisch sein. Es hat aber auch eine klare Milderung stattgefunden im Blick auf Menschen, die an einem Gottesbild leiden.
Sie sprechen von sogenannten ekklesiogenen Störungen?
Moser: Heute verwende ich die Bezeichnung ekklesiogene Störungen oder ekklesiogene Neurosen nicht mehr. Das war bis in die 70er Jahre hinein ein wichtiger Begriff. Er beruhte darauf, dass man dachte, der Glaube mache die Neurose. Aber der Glaube ist etwas, das oft später zu Störungen der frühen Kindheit hinzukommt. Erst durch die biblischen Geschichten hat die Störung eine Bebilderung bekommen. Religiöse Indoktrination kann aber die Störung vertiefen.
"Es gibt Menschen, die sind vergiftet durch das, was man ihnen über Gott erzählt hat"
Die Diagnose "Gottesvergiftung" wenden Sie also immer noch an?
Moser: Es gibt Menschen, die sind vergiftet durch das, was man ihnen über Gott erzählt hat. Sie haben Gott als niederdrückende Instanz erlebt. Ich würde von mir auch sagen, ich hatte eine Gottesvergiftung, durch das Bild von Gott, das ich hatte.
Wie entstehen vergiftete Gottesbilder?
Moser: Eine Gottesvergiftung entsteht meist durch negative Mutterstimmen. Es geht heute nicht mehr so sehr um den vorwurfsvoll mächtigen Vater, sondern um die schlimmen Varianten der mütterlichen Zuwendung. Die Zuneigung oder die Geringschätzung der Mutter prägt. Durch Übertragung wird das, was man erlebt hat, in das Gottesbild hineinprojiziert - Jesus am Kreuz, Gottvater im Himmel, Jungfrau Maria mit dem Schutzmantel. Das Gottesbild wird eingefärbt durch die Erlebnisse des Kindes.
Auf der anderen Seite haben Wissenschaftler aber auch immer wieder nachgewiesen, dass religiöse Menschen offenbar gesünder sind als nichtreligiöse.
Psychoanalytiker Tilmann Moser, Foto: privat
Es scheint nachgewiesen, dass diejenigen zuversichtlicher sind, die ihre Sorgen Gott anvertrauen können. Viele haben bessere soziale Beziehungen, vor allem wenn sie in einer gutartigen Gemeinde leben. Für manche ist ihr guter Glaube eine Lebensstütze, die ihnen hilft. Ich bin zur Einsicht gekommen, dass Religion eine Ressource sein kann. Echte Frömmigkeit kann eine Kraftquelle sein. Menschen, die mit einem gutartigen Gottesbild durchs Leben gehen, haben allerhand psychische Vorteile.
"Ein tiefes Enttäuschungsgefühl ist oft das Zeichen für eine religöse Störung"
Wann wird denn Religion krankhaft?
Moser: Wenn sie lebensschädigend ist und zu einem Verlust an Lebensqualität führt. Das kann eine Depression sein, aber auch Schuldgefühle oder übermäßiges Spenden und Wallfahrten. Auch übermäßiger Kirchgang oder überlanges Beten kann ein Zeichen dafür sein, dass eine Störung vorliegt. Und natürlich starker Selbstzweifel. Ein tiefes Enttäuschungsgefühl ist oft das Zeichen für eine religiöse Störung.
Glauben Sie an Gott?
Moser: Die Existenz Gottes würde ich nicht bestreiten. Ich glaube aber selbst nicht daran. Jedenfalls nicht in irgendeinem Sinn, wie es die Kirche gelehrt hat. Für mich ist dieser Gott nur kunstgeschichtlich von Relevanz. Aber selbst in Zeiten von Not und Bedrängnis oder depressiver Verstimmung bin ich nicht versucht, mich noch mal an Gott zu wenden.
Welche Erfahrungen machen Sie mit Gott in Ihrer therapeutischen Praxis?
Moser: Gott kann eine mehrfache Existenz haben. In einem Menschen sind oft mehrere Gottesbilder wirksam. Manche Menschen haben eine ambivalente Gottesbeziehung, zu der Zweifel, Kampf und Hader dazugehören. Das nenne ich einen erträglichen Gott. Ich sehe das Überleben Gottes eher im Zuhör-Gott. Eine Instanz, die zuhört und einen Blick auf Sorgen und Nöte wirft. Das kann entlastend wirken. Als psychohygienische Hilfskraft finde ich Gott sehr akzeptabel.
"Wenn einer sagt, eigentlich kann ich ohne Gott auskommen, dann kan ich das würdigen"
Erleben Sie auch den völligen Abschied von der Religion?
Moser: Einem totalen Abschied muss schon viel vorausgegangen sein. Aber wenn einer sagt, eigentlich kann ich ohne Gott auskommen, dann kann ich das würdigen. Dann kann ich anerkennen, dass er diese Stütze nicht mehr braucht. Das setzt aber voraus, dass der Erkenntnisschritt vorausgegangen ist, Gott beispielsweise als Lebenskrücke benutzt zu haben. Und diese Lebenskrücke kann wegfallen.
Wann wird denn die Ablehnung der Religion krankhaft?
Moser: Wenn jemand mit einem Leidesdruck kommt und ich merke, er hat ein unablässiges Bedürfnis, gegen die Kirche zu lästern, dann frage ich nach den Enttäuschungen. Und ich frage, wie er mit seiner Trotzphase umgegangen ist, wie in der Adoleszenz seine Autonomiebestrebungen respektiert worden sind? Ob es einen inneren Gegner gibt, der auch die Form der Religion angenommen hat, gegen wen polemisiert er eigentlich? Polemisiert er dagegen, dass er ein paar Jahre unter der strengen Religion gelitten hat? Dann ist die Polemik eine Rache an Gott und der Kirche.
Worauf stützt sich Ihre Kritik an der Kirche?
Moser: Meine Kritik ist nicht mehr generell. Ich übe aber Kritik an der Kirche, wenn sie an einer veralteten Dogmatik festhängt, wenn sie an der Sündentheologie festhält, wenn sie daran festhält, den Gekreuzigten in allen kirchlichen Räumen den Menschen auf das Gemüt zu drücken. Ein Schritt weg vom Glaube war für mich die Erkenntnis, so böse fühle ich mich nicht, dass Jesus meinetwegen gemartert und gekreuzigt werden sollte. Die Kirche ahnt inzwischen, dass die reine Sünden- und Kreuzestheologie so nicht mehr stimmen kann.
"Es finden Veränderungen statt, bis hin zum Kuschelgott, in dem das Bild des grausamen, schrecklichen, rachsüchtigen, verdammenden Gottes gemäßigt wird"
Wie sehen Sie die Kirche heute?
Moser: Viele Pfarrer bemühen sich, einen nicht Angst machenden Gott zu predigen. Da finden Veränderungen statt, bis hin zum Kuschelgott, in dem das Bild des grausamen, schrecklichen, rachsüchtigen, verdammenden Gottes gemäßigt wird. Es gibt auch einen gewissen Abschied von der Behauptung des allmächtigen Gottes. Aber es gibt natürlich Instanzen oder Institutionen, die das andere indoktrinierende, überwachende Gottesbild verlängern. Beispielsweise, wenn der Papst sagt, es gibt den Teufel oder es gibt die Hölle. Oder die Vorstellung, alle Menschen sind Sünder, und Jesus musste für sie sterben. Das perpetuiert das Schlimme.
Welche Rolle sollte die Kirche in Zukunft im öffentlichen Raum spielen?
Moser: Wenn man sich die Geschichte der Bundesrepublik seit Adenauer anschaut, dann hat sich die Kirche ja unglaublich eingedrängt in die Gesetzgebung und in die moralischen Vorstellungen, etwa im Bereich von Ehescheidung und Abtreibung. Meiner Meinung nach ist es daher völlig legitim, dass dieser Einfluss einer dogmatischen Instanz im öffentlichen Leben begrenzt wird.