Das Kavaliersdelikt ist ein Vergehen, über das die Allgemeinheit gönnerhaft hinwegsieht. Manche dieser vermeintlich lässlichen Sünden sind jedoch alles andere als ritterlich, und darum geht es in "Marie Brand und das tote Au-pair": Nach dem gewaltsamen Tod einer 19jährigen Engländerin zeigt sich recht bald, dass gleich drei deutlich ältere Männer gewisse Grenzen verletzt haben. Hauptverdächtiger aus Sicht der Krimifans ist Fahrlehrer Jochen Keuber, denn der Mann wird von Andreas Lust gespielt. Der Österreicher hat schon so viele Straftäter verkörpert, dass er mittlerweile vermutlich nur noch als personifiziertes Ablenkungsmanöver besetzt wird.
Kurz vor ihrem Tod hatte Alice Taylor Kontakt zur Beratungsstelle "Wehr dich Köln!". Dort erfahren Betroffene, was sie tun können, wenn sie Opfer von sexueller Belästigung werden. Fahrschulen, lernen Brand und Simmel (Mariele Millowitsch, Hinnerk Schönemann), seien in dieser Hinsicht ein Klassiker: "Die Fahrt ist per se Stress für die Schülerin und der Fahrlehrer kontrolliert die Situation." Ein Szenenwechsel scheint der Beschreibung die Schärfe zu nehmen: Der Fahrschulwagen steht auf einem einsamen Parkplatz, die Geräusche lassen keinen Zweifel daran, dass eine Frau große Freude an der Spritztour hat.
Allerdings handelt es sich nicht um eine Fahrschülerin, sondern um Sabine Keuber (Alexandra Schalaudek), und ihr Fahrschüler ist auch kein Anfänger, sondern ein Taxifahrer, der wegen Trunkenheit am Steuer zum sogenannten Idiotentest verdonnert wurde. Als die Fahrlehrerin später erfährt, was ihr Gatte während der Fahrstunden getrieben hat, ist sie trotzdem ehrlich empört; so ist der Mensch. Obwohl offenkundig ist, dass Keuber Dreck am Stecken hat, würde Simmel lieber einen anderen Mann aus dem Umfeld von Alice drankriegen: Die junge Frau arbeitete als Au-pair bei einem verwitweten Piloten und dessen Teenagertochter.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Simmel ist überzeugt, dass der eigentlich sympathische Yasin Malik (Mohamed Achour) eine Gegenleistung ("au pair") für seine Großzügigkeit erwartet hat. Dritter Kandidat ist der Typ, der seinen Führerschein verloren hat: Christoph Seifert (Timo Jacobs) hat den Taxibetrieb notgedrungen seinem Neffen (Pit Bukowski) überschrieben, aber auf ziemlich miese Tour dafür gesorgt, dass nach wie vor Geld in seine Taschen fließt, und daran war Alice nicht ganz unbeteiligt. Später stellt sich raus, dass Seifert und Frau Keuber noch auf ganz andere Art unter einer Decke stecken, was zu einem fast schon skurrilen Finale führt, als Simmel und Brand einen Überfall auf einen Geldtransporter in rekordverdächtigem Tempo aufklären.
"Marie Brand und das tote Au-pair" ist weit davon entfernt, in die TV-Geschichte einzugehen, und setzt selbst im Rahmen der Reihe keine Glanzpunkte, die in Erinnerung bleiben werden: Die Geschichte ist nicht weiter spektakulär, die Umsetzung ist nicht sonderlich aufregend. Zeitverschwendung ist diese 36. Episode trotzdem nicht. Dafür steht nicht zuletzt Timo Berndt, dessen Krimis in der Regel stets sehenswert sind. Zur Filmografie der Schweizer Regisseurin Christine Repond zählen neben "Ostfriesenwut" (2023) fürs ZDF zwei "Tatort"-Beiträge aus Zürich, die beide eher enttäuschend waren.
Ihre erste Arbeit für "Marie Brand" ist jedoch im besten Sinne solide: Die Handlung ist schlüssig und schlägt verschiedene Haken, die Bildgestaltung (Kamera: Timo Moritz) ist sorgfältig und erfreut durch einige schwungvolle Flüge, die schauspielerischen Leistungen sind ausnahmslos überzeugend. Das gilt neben den erfahrenen Mitwirkenden gerade auch für die jungen Ensemble-Mitglieder. Die 17jährige Ela Malik (Saron Degineh) ist ebenfalls in den Fall verwickelt, zumal sie doppelten Grund zur Eifersucht hatte: Nicht nur ihr Vater, auch ihr Freund Marten (Luke Matt Röntgen), der Sohn des Fahrschulehepaars, haben Alice mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als Ela lieb war.
Aufgrund einer vermutlich zufälligen Programmplanungskoinzidenz lässt sich recht gut vergleichen, wie sich die beiden TV-Kommissare unterscheiden, die Hinnerk Schönemann für ARD und ZDF verkörpert: Tags drauf zeigt das "Erste" ARD einen neuen Krimi aus der Reihe "Nord bei Nordwest". Der in Ost-Berlin aufgewachsene gebürtige Rostocker ist keiner jener Schauspieler, die hinter ihren Figuren verschwinden, weshalb sich die beiden Rollen abgesehen vom etwas größeren mimischen Einsatz als Simmel vor allem charakterlich unterscheiden: Der Kölner Ermittler ist im Grunde ein wichtigtuerischer Kleinbürger, der unter maßloser Selbstüberschätzung leidet; vor allem, was seine Wirkung auf Frauen angeht.