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12. Januar, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Borowski und das hungrige Herz"
Die Hauptdarstellerin ist keine Sexarbeiterin, sondern sexsüchtig. Vor ihrem Tod hatte sie Gruppensex. Der aufmerksame Nachbar (Martin Umbach) hat an diesem Tag sechs Besucher gezählt, und einer wird wohl der Täter sein, vermuten Klaus Borowski und Mila Sahin (Axel Milberg, Almila Bagriacik). 

Anders als Spielsucht und die Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol gilt Hypersexualität, im Volksmund Sexsucht, nur bedingt als Krankheit. Dabei wird übersehen, dass die betroffenen Menschen genauso unter ihrer psychischen Störung leiden wie andere Süchtige. Die Grenzen mögen fließend sein, weshalb sich das Krankheitsbild kaum eindeutig definieren lässt, aber wenn sich ein Verhalten nicht mehr kontrollieren lässt und Familie, Beruf sowie soziale Kontakte darunter leiden, wird es generell zum Problem. Als Filmstoff stellt das Sujet eine Gratwanderung dar, und das nicht nur aus Gründen des Jugendschutzes: "Männer, die viel Sex haben, sind echte Kerle, aber Frauen sind immer noch Schlampen", sagt eine Betroffene im Verlauf dieses Krimis aus Kiel. 

Deshalb sind die Mitglieder der Hausgemeinschaft auch überzeugt, dass Andrea Gonzor eine Prostituierte ist. Ein Mann führt sogar Buch über ihre Herrenbesuche. Das hat sich nun erledigt, denn die Nachbarin ist erschossen worden. Theoretisch könnte es sich angesichts der Schmauchspuren an ihren Händen auch um Suizid handeln, aber dann wäre der Einschusswinkel völlig atypisch. Die Frau (Anna König) war ohnehin keine Sexarbeiterin, sondern sexsüchtig. Vor ihrem Tod hatte sie Gruppensex (neudeutsch Gangbang). Der aufmerksame Nachbar (Martin Umbach) hat an diesem Tag sechs Besucher gezählt, und einer wird wohl der Täter sein, vermuten Klaus Borowski und Mila Sahin (Axel Milberg, Almila Bagriacik). 

Die Ermittlungsebene des Drehbuchs von Grimme-Preisträgerin Katrin Bühlig ist also offenkundig. Anders als in den meisten anderen Krimis, die sich mit einem konkreten sozialen oder psychologischen Problem befassen, gibt es in "Borowski und das hungrige Herz" jedoch kein Kurzreferat über das Thema. Stattdessen macht sich der Kommissar ganz altmodisch mit Hilfe von Fachliteratur kundig, und das nicht nur wegen des Falls: Borowski wird Opfer einer Stalkerin. Nele Krüger (Laura Balzer) hat Andrea in einer Selbsthilfegruppe kennengelernt und den Männern am Abend vor dem Tod der Freundin die Tür geöffnet, wollte aber am "Gangbang" nicht teilnehmen.

Weil sich der Kommissar mit väterlicher Empathie um die schockierte junge Mutter kümmert, fasst sie umgehend Zutrauen zu dem mindestens doppelt so alten Mann; und recht bald auch mehr als das. Fortan überflutet sie den Beamten mit emotionaler Zuwendung, aber prompt schlagen die Gefühle schließlich ins Gegenteil um, als ihr klar wird, dass es dem Ermittler nur um die Aufklärung des Falls geht.

Reizvoll ist "Borowski und das hungrige Herz" wegen der Einblicke in eine Welt, die den meisten Menschen mindestens befremdlich erscheinen wird: Männer und Frauen treffen sich nachts bei strömendem Regen auf einem Parkplatz, um gemeinsam mit wildfremden Leuten ihrer Lust zu frönen; das ist schon ziemlich bizarr. Entsprechend deplatziert fühlt sich ein früherer Freund (Robert Finster) Sahins, als er um ein Rendezvous bittet und sie ihn zwecks verdeckter Ermittlung ohne Vorwarnung zu dem nächtlichen Stelldichein mitnimmt.

Ralf Petersen (Kailas Mahadevan), ein unscheinbarer Mann mit bravem Scheitel und Bauchtasche, klärt die Kommissarin darüber auf, wie die Begegnungen funktionieren. Er gehörte ebenfalls zu Andreas Besuchern, wenn auch als passiver Teilnehmer. Der Krimipart folgt den üblichen Konventionen; als Hauptverdächtiger kristallisiert sich schließlich der Ex-Freund (Peter Sikorski) heraus. Bühlig konzentriert sich jedoch vor allem auf die toxisch übersteigerten Gefühle Nele Krügers, die sich auf diese Weise zunehmend zur typischen Filmfigur entwickelt. Zunächst verkörpert Laura Balzer, die als Mitglied des Berliner Ensembles nur selten vor der Kamera steht, die junge Frau durchaus glaubwürdig, aber dann driftet Nele mehr und mehr ab. 

Regie führte Maria Solrun. Die gebürtige Isländerin hat mehrere Drehbücher für die frühere ARD-Freitagsreihe "Liebe am Fjord" geschrieben; ihr letzter Film war das fürs Kino entstandene Gehörlosendrama "Adam" (2018). Einziger Mann unter lauter Frauen bei den kreativen Kräften ist der ebenso wie Solrun und Kamerafrau Birgit Guðjónsdóttir aus Island stammende Komponist Haraldur Thrastarson, dessen ungewöhnliche Musik für eine spezielle Atmosphäre sorgt. Interessant ist auch die Auswahl der eingespielten Songs, die einen konkreten Bezug zur Handlung haben. Das gilt vor allem für "Wie weit" von den Fantastischen Vier und Mia mit dem Refrain "Wie weit willst du gehen?". Bruce Springsteens Hit "Hungry Heart" hätte nicht nur wegen des Filmtitels auch gut gepasst.