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8. Dezember, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Stille Nacht"
Für die einen ist Weihnachten das Fest der Liebe, für die anderen Arbeit: Zu keiner anderen Zeit werden mehr Einbrüche begangen als rund um Weihnachten, und manch’ ein Christbaum geht in Flammen auf. Mord und Totschlag am zweiten Advent.

Liebe ist ohnehin oft nur ein Wort: Wenn an Weihnachten die ganze Familie zusammenkommt, zu viele Erwachsene zu wenig Platz haben und die Wirklichkeit den übersteigerten Erwartungen nicht gerecht wird, kann die Stimmung auch mal kippen. Natürlich muss das nicht unbedingt zu Mord und Totschlag führen. Sonntags um 20.15 Uhr aber schon, sonst wär’s ja kein Krimi: Während droben die Familie Weihnachten gefeiert hat, ist ein Mann im Keller seines Hauses erschossen und beraubt worden. So legt es zumindest der erste Anschein nahe: Ein Fenster wurde aufgebrochen, der Safe ist leer.  

"Stille Nacht" lautet der etwas einfallslose Titel dieses sechsten Bremer "Tatorts" mit dem Frauenduo Moormann und Selb (Jasna Fritzi Bauer, Luise Wolfram). Während der Dreharbeiten hieß der Film in Anlehnung an Chris Reas modernen Weihnachtsklassiker "Driving Home for Christmas". Nicht nur wegen des Todesfalls hätte "Last Christmas" noch besser gepasst, denn der gleichnamige Evergreen von Wham, das musikalische Hassobjekt aller Menschen mit Weihnachtsphobie, erklingt gleich  mehrfach: Der Moment gegen Mitternacht, als Familie Wilkens nicht schön, aber laut eine Karaoke-Version des Songs zum Besten gibt, bevor Vater Hendrik (Matthias Freihof) im Keller stirbt, ist die Schlüsselszene des Films und wird gleich mehrfach wiederholt.

Die Hansestadt und ihre Umgebung wird derzeit von einer Einbruchserie heimgesucht, offenbar hat Wilkens die Täter überrascht: Das könnte stimmen. Seltsam nur, dass niemand den Schuss gehört haben will. Natürlich hat es auch seinen guten Grund, dass sich Selb geradezu kindlich über eine neuartige digitale 360-Grad-Kamera freut, die bei diesem Fall erstmals zum Einsatz kommt. Weil die Kommissarin die Details der Aufnahmen am Computer auseinandernehmen und neu zusammensetzen kann, braucht sie nicht lange, um rauszufinden, dass das Kellerfenster eingeschlagen worden ist, als das Opfer bereits tot am Boden lag. Somit ist klar, dass der Mord von einem der Anwesenden begangen worden sein muss; aber angeblich haben ja alle zur Tatzeit "Last Christmas" gesungen. 

Gleich zu Beginn schüttelt Hendrik eine Schneekugel. Als die Flocken zur Ruhe kommen, sind die Familienmitglieder zu erkennen. Die Musik lässt bereits jetzt das drohende Ungemach erahnen. Tatsächlich bekommt das Bild der scheinbar perfekten Sippe wie fast immer in solchen Geschichten erste Risse, als Selb und Moormann an der Fassade kratzen: hier eine Depression, dort ein Alkoholproblem, und der jüngere Sohn ist ohnehin sauer, weil er Neuigkeiten immer als Letzter erfährt. All’ das ist jedoch immer noch bloß Oberfläche. Tatsächlich tragen die Wilkens’ eine düstere Bürde mit sich herum, die auch noch andere belastet; im Grunde ist "Stille Nacht" eine dreifache Familientragödie.

Ungewöhnlich ist allerdings, mit welcher Vehemenz alle den fremden Gast verteidigen, der aus Sicht der Kommissarinnen hochgradig verdächtig ist, zumal er sich alsbald aus dem Staub macht: Andy (Jernih Agapito) ist ein philippinischer Matrose, dessen Schiff an Heiligabend in Bremerhaven ankert. Fabienne (Pia Barucki), die Tochter des Hauses, arbeitet in der Seemannsmission und hat ihn mitgebracht. Später stellt sich raus, dass Andy, der in Wirklichkeit anders heißt, unbedingt zu den Wilkens’ wollte. Außerdem hat Hendrik jeden Monat immer die gleiche Summe von seinem Konto abgehoben. Sein Ehemann habe halt gern mit Bargeld bezahlt, sagt Bjarne (Rainer Sellien); aber das ist selbstredend nur die halbe Wahrheit.

Neben der interessanten und sehr lange völlig undurchsichtigen Geschichte (Buch: Daniela Baumgärtl, Kim Zimmermann) zeichnet sich "Stille Nacht" vor allem durch eine clevere Rückblendendramaturgie aus: Die verschiedenen Hypothesen und Schilderungen vom Tathergang werden nicht vorgetragen, sondern bebildert. Jede dieser Szenen beginnt mit der Karaoke-Version von "Last Christmas", dann folgen die möglichen Abläufe: erst gemäß der übereinstimmenden Aussagen aller Verdächtigen die Version vom Einbrecher, dann die Überlegungen der Kommissarinnen, ob eins der Familienmitglieder den Vater auf dem Gewissen hat, schließlich die Wahrheit. Regie führte Sebastian Ko, der zu Beginn seiner Karriere einige sehenswerte Sonntagskrimis für den WDR gedreht hat. "Stille Nacht" ist nach "Donuts" (2023) sein zweiter "Tatort" aus Bremen und deutlich besser.