Frau Jahn, driftet unsere Gesellschaft auseinander?
Kristin Jahn: An vielen Stellen schon. Ich merke, dass wir verschiedene Lebenswelten haben in Stadt und Land und dass wir eine Politik erleben, die es immer schwerer hat, diese Vielfältigkeit jeden Tag einzubeziehen und Dinge aus der anderen Perspektive zu durchdenken. Da driftet etwas manchmal unbewusst auseinander. Nicht mit dem Ziel: Die sind uns egal, die wollen wir nicht hören. Das ist eher etwas Unbewusstes. Ich finde es wichtig, dass wir uns das bewusst machen.
Zur Ehrlichkeit gehört dazu, zu schauen: Wer ist in leitenden Gremien vertreten? Wenn ich zum Beispiel in den Kirchentag mit seinen Gremien blicke - da haben wir wenig Menschen, die nicht studiert haben, die aus einem anderen Milieu kommen, Arbeiterkinder sind. Da haben wir in unserem System immer wieder blinde Flecken und stehen in der Gefahr, Themen gar nicht mehr aus einer anderen Perspektive durchdenken zu können, weil uns hier diese Vielfalt fehlt.
Viele Themen scheinen die Gesellschaft in Deutschland zu spalten. Was muss sich ändern, damit Menschen im Streit wertschätzend miteinander umgehen?
Jahn: Da antworte ich dezidiert als Theologin, denn das ist meine Rolle in dieser Welt. Ich glaube, wir müssen und ich muss Abstand davon nehmen, dass meine Meinung die letzte und höchste ist. Wenn ich mich selbst absolut setze, dann gibt es keine andere Wahrheit als allein meine. Ich sehe es mit Sorge, wenn sich in kirchlichen Kontexten immer mehr Gruppen gegeneinander stellen, sehr identitätspolitisch für eine Sache kämpfen und dabei eigentlich das Gemeinsame aus dem Blick verlieren.
Die Kirche von heute ist mehr denn je gefragt, sich auf ihre seelsorgerliche Qualität zu fokussieren. Je mehr wir uns übereinander erheben, desto mehr Spaltung wird auch in der Kirche geboren und gelebt.
Was kann die Kirche gegen das Auseinanderdriften tun?
Jahn: Für mich ist es ein riesengroßer Schatz, dass wir sowohl im Evangelium als auch im Grundgesetz das Feindbild verabschiedet haben. Das ist die Klammer, in der sich alles abspielt. Deshalb bleibe ich als Christin und Bürgerin in diesem wunderbaren Land auch meinem politischen Gegner gegenüber zugewandt, obwohl ich seine Position vielleicht nie teilen werde. Es geht darum, dass wir uns nicht gegenseitig abschreiben, sondern einander zugestehen, morgen noch besser miteinander umgehen zu können.
"Wir als Kirchentag werden die Kontroverse in Zukunft viel stärker wagen"
Der Kirchentag hat sich in demselben Jahr gegründet, als das Grundgesetz verfasst wurde, 1949. Das ist für mich kein Zufall, sondern Ausdruck eines unbedingten Willens, es in dieser Gesellschaft miteinander hinzubekommen, trotz aller Schuld und Differenz, die uns trennt.
In einer Kirchengemeinde braucht es den Mut, es zuzulassen, dass man Befürworter und Gegner in einer politischen Sache im Kirchsaal sitzen hat. Diesen Mut braucht es auch auf dem Kirchentag. Damit nicht vorschnell aussortiert und gesagt wird: Wir sind jetzt die Community für diese bestimmte Gruppe und für diese politischen Parteien. Sondern wir treten in einen Dialog. Das müssen wir sehr gut reflektieren, damit wir die Spaltung nicht vorschnell zementieren und leben.
Wie kann der Kirchentag, der auch ein Forum für kontroverse politische Diskussionen sein will, konkret zu einer besseren Streitkultur in Deutschland beitragen?
Jahn: Wir als Kirchentag werden die Kontroverse in Zukunft viel stärker wagen und den guten Streit zu zweit inszenieren. Etwa indem der Moderator Person A fragt: Was haben Sie von Person B mitgenommen, was lernen Sie von ihr, obwohl Sie ihre politische Meinung nie teilen werden? Und umgekehrt. Ich wünsche mir, dass wir Debatten auf dem Kirchentag in dieser wertschätzenden Art und Weise anzetteln, damit Teilnehmende und Zuhörende wissen: Okay, es gibt diese beiden vollkommen verschiedenen Sichtweisen, und ich selbst befinde mich vielleicht zwischen Position A und B.
Inwieweit sollte Kirche politisch sein?
Jahn: Es ist in diesen Zeiten hochpolitisch, nicht mitzuschimpfen, wenn alle schimpfen und stattdessen das Gute zu suchen, das Beste in einer Stadt. Das ist etwas Hochpolitisches, aber es ist nichts Parteipolitisches. Ich sehe es mit Sorge, wenn die Kirchenleitung meint, alles kommentieren zu müssen, was gestern im Bundestag war, und sich davon zu erhoffen, dass man morgen in der Presse gehört wird. Daran wird sich die Relevanz der Kirche nicht entscheiden.
"Was kommt nach Konsum und Wohlstand? Darauf hat Deutschland noch keine Antwort."
Aber sehr wohl daran: Die Leute werden uns fragen: Warum teilt ihr euer Brot, warum engagiert ihr euch für eine Tafel in der Stadt, warum macht ihr gute Bildungsarbeit in der evangelischen Kita? Da brauchen wir Christen eine Antwort, etwa indem wir sagen: Das tun wir, weil wir nicht hoffen, dass der Staat alles macht, sondern weil wir uns selbst in Verantwortung gerufen wissen. Ich wünsche mir, dass Christen diese fröhliche, selbstbewusste Antwort jeden Tag in ihrem Herzen haben. In dieser Haltung sollten Christen unterwegs sein und das nicht tun, weil die Kamera geleuchtet kommt. Wir beten doch nicht für Applaus.
Konflikte wie der Ukraine-Krieg oder der Nahostkonflikt spielen sich außerhalb Deutschlands ab. Dennoch haben sie Einfluss auf unsere Gesellschaft. Manche Menschen fühlen sich davon gestresst und haben Angst.
Jahn: Das kann ich sehr gut verstehen. Zugleich frage ich mich: Was kommt nach dem Konsum und was kommt nach dem Wohlstand? Darauf hat dieses reiche Deutschland aktuell noch keine Antwort, keine Zukunftserzählung. Kirchentag ist für mich immer der Mut, Israel und Palästina in einem Satz zu sagen. Es ist der Mut, Russland und Ukraine in einem Satz zu sagen und keine Gewalt zuzulassen, und der unbedingte Wille zum Dialog. Ich wünsche mir mit Blick auf diese Kriege unter uns eine Haltung, die die Schmerzen des anderen sehen kann und niemandem das Existenzrecht abspricht.
Und wir müssen als Deutsche sehr aufpassen, dass wir uns nicht paternalistisch über die Menschen in der Ukraine erheben und sagen: "Unser Konzept war damals Frieden schaffen ohne Waffen, und jetzt haltet mal still." Ich halte es für sehr gefährlich, die eigene Erkenntnis, das eigene Ringen gegen ein totalitäres System in der DDR als Lösung und als Etikett auf andere zu kleben. Vielmehr sollten wir uns fragen: Was können wir in Deutschland tun, um all jene zu stärken, die als Oppositionelle gegen Wladimir Putin in Russland aufbegehren?