evangelisch.de: Das Format "Wilde Kirche" gibt es schon an anderen Orten in Deutschland, ein Netzwerk dazu auch. Herr Kreß, Sie haben nun in der sächsischen Schweiz ein Projekt ins Leben gerufen. Was genau erwartet den Teilnehmenden?
Sebastian Kreß: Auf alle Fälle erwartet die Teilnehmenden die Möglichkeit, Glaubenserfahrungen in der Natur zu machen. Ich bin mir sicher, dass das eine persönliche Bereicherung sein kann, wenn man sich darauf einlässt. Wir knüpfen dabei an Pfade an, die schon in der Bibel und in der christlichen Tradition angelegt sind. Aber ich glaube: Auch wer keinen Bezug zum christlichen Glauben hat, kann da Wertvolles für sich finden.
Es ist eben ein Experimentierraum, das heißt: Es ist noch offen, wie die "Wilde Kirche" ihre Form finden wird. Das klingt vielleicht noch ziemlich ungreifbar, aber gerade daran zeigt sich etwas Wesentliches von Wilder Kirche. Sie ist nämlich ein Ort, wo ich versuche, eine Haltung der Offenheit zu leben. Und das ist eben eine andere Haltung als die der Erwartung. Offenheit heißt auch, ein bisschen die Kontrolle loslassen und mich treiben lassen, auf meine Intuition hören. Alles das sind Dinge, die für mich zum Glauben gehören. Und die Natur ist vielleicht der beste Ort, wo wir das üben und leben können.
Was genau ist "wild" an dem Projekt?
Kreß: Ja, der Begriff weckt ganz unterschiedliche Assoziationen. Was vielleicht überrascht, ist: Wildnis wird hier auf eine eher meditative oder kontemplative Weise erlebt. Nämlich, indem ich versuche, meinen gewohnten Alltagsblick mal für eine Weile abzulegen. Das kann mir helfen, einen anderen Blick zu finden, der über meine gewohnten und fest geprägten Vorstellungen hinausgeht. Dann bekomme ich eine Ahnung von etwas Wildem – im Sinne von etwas Ursprünglichem.
Wie eng sind Natur und Glauben miteinander verbunden?
Kreß: Ich würde sagen, Natur hat immer eine spirituelle Dimension. Die ist einfach da. Weil Natur eben von Gott geschaffen ist. Es gibt ein gedankliches Bild, das mir dafür immer wichtiger wird: In allem, was Gott geschaffen hat, können wir seine Handschrift erkennen. So betrachtet ist die Schöpfung quasi Gottes erste Bibel. Und es kann etwas unglaublich Schönes sein, in dieser Bibel zu lesen!
"Glaube und Natur hängen für mich untrennbar zusammen"
Und genauso denke ich. Glaube hat auch immer eine natürliche Dimension. Glaube ist nicht vom Himmel gefallen. Wir glauben als natürliche Geschöpfe.
Mir ist bewusst, dass solche Aussagen nicht einfach Tatsachen sind, sondern eben Glaubenseinsichten. Das schwächt sie für mich aber nicht ab.
Also: Glaube und Natur hängen für mich untrennbar zusammen. Vielleicht haben wir nur ein bisschen aus dem Blick verloren, beides in dieser Verbundenheit wahrzunehmen. Dann wird Glauben für mich im wahrsten Sinne des Wortes etwas weltfremd.
Entwickeln wir uns also von der Natur weg? Haben wir weniger Naturverbundenheit?
Kreß: Das ist bestimmt von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Ich spüre zumindest in mir eine Sehnsucht nach einer tieferen Verbundenheit mit der Natur. Und für mich ist mittlerweile klar: So eine Verbundenheit braucht Übung - also regelmäßige und bewusste Aufmerksamkeit.
"Verbundenheit spielt eben auch eine enorm wichtige Rolle im Leben"
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Online-Texterin und Marketing-Coach. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Diese Sehnsucht nach Verbundenheit ist sowas wie mein innerer Impuls, der in der Wilden Kirche einen Platz für sich sucht. Und ich merke, da gibt es andere Menschen, denen es ähnlich geht. Verbundenheit spielt eben auch eine enorm wichtige Rolle im Leben. Sicherlich ist das Vermissen von solcher Verbundenheit auch eine Kehrseite von einem Alltag, der immer mehr "durchdigitalisiert" ist. Wenn mein Leben immer mehr vor dem Bildschirm stattfindet, empfinde ich das als Entfremdung – weil da vieles keinen Platz hat, was zu echter und tiefer Beziehung gehört.
Wie wichtig ist Spiritualität, das "Zu-Einem-Selbst-Finden" in heutiger Zeit?
Kreß: Interessant, Spiritualität als "Zu-Einem-Selber-Finden" zu betrachten. Ich frage mich, ob uns Spiritualität nicht eher helfen muss, von uns weg zu finden. Also, dass wir uns nicht nur um uns selber drehen. Das Selber-Finden kann ja zu etwas sehr Narzisstischem und eben Egozentrischem werden. Ich glaube, davon brauchen wir nicht noch mehr. Das ist eher Selbstvergöttlichung, als Spiritualität.
Aber auf eine andere Weise kann ich dem Gedanken schon auch etwas abgewinnen, dass Spiritualität ein "Zu-Einem-Selber-Finden" ist. Nämlich im Blick auf das, was ich gerade mit "Entfremdung" gemeint habe. In Spiritualität geht’s für mich auch darum, mich selber zu spüren. Und zwar auf eine ganz ehrliche Weise. Zu versuchen, die Fassaden abzubauen, die dieser Ehrlichkeit im Weg stehen. Das ist für mich der Weg, wo ich Gott begegne. Oder anders gesagt: die Gegenbewegung zur Entfremdung.
Und ich bin überzeugt: Die Natur kann dabei eine ganz große Helferin sein! Weil sie mir hilft, ganz einfach da zu sein. Diese Einfachheit liebe ich in der Natur besonders – wo ich fast alles zurücklasse und nur das Nötigste dabei habe. Und wenn ich mich auf diese Einfachheit einlasse – was nicht immer leicht ist – dann kann sich eben auch so eine tiefere Ehrlichkeit einstellen. Vielleicht ist es das, was in der Kirche besonders "wild" ist.