Wie die meisten seiner Berufskollegen begrüßte er den Machtantritt der Nationalsozialisten. Er machte nie ein Hehl aus seiner antisemitischen Grundüberzeugung. Das alles schien ihm aber nicht geschadet zu haben. 1949 wurde Otto Dibelius zum EKD-Ratsvorsitzenden gewählt und prägte für Jahrzehnte die evangelische Kirche entscheidend mit. Nun ist über ihn ein neuer Forschungsband erschienen.
1880 wurde Otto Dibelius in Berlin in einer preußischen Beamtenfamilie geboren. Seine ersten Stationen als Pfarrer vor dem Ersten Weltkrieg waren Guben, Crossen an der Oder, Danzig und Lauenburg in Pommern. Schon früh machte Dibelius sich Gedanken darüber, wie er seine Kirche attraktiver machen konnte. Er führte Neuerungen ein, die heute selbstverständlich sind: Gemeindeversammlungen, Gemeindebriefe, die Mitteilung, wofür die Kollekte bestimmt ist. Und Kindergottesdienste.
"Er war unzufrieden, wenn nur 80 Prozent der Kinder in der Gemeinde in den Kindergottesdienst kamen. Da hatte er die Vorstellung, die evangelische Kirche hat die Aufgabe, alle Menschen zu erreichen", sagt der Marburger Neutestamentler Lukas Bormann, der jetzt einen neuen Forschungsband über Otto Dibelius mit herausgegeben hat.
Noch viel mehr schaute der Lutheraner Otto Dibelius über seinen märkischen Tellerrand. So unternahm er etwa eine Studienreise nach Schottland zu der dort dominierenden presbyterianischen Kirche. "Seine Analyse des schottischen Reformiertentums ist darauf ausgerichtet: Wie kann es gelingen, die evangelische Kirche über die herkömmlichen Kreise des Bürgertums, des Adels und der Bauernschaft hinaus auch in der Arbeiterschaft zu verankern", sagt Lukas Bormann über die frühen Pfarrer-Jahre von Otto Dibelius.
Auch holte sich der Berlin-Brandenburgische Theologe Anregungen bei den niederländischen Neo-Calvinisten, denen es gelungen war, die Arbeiterschaft wieder für die Kirche zu gewinnen. Sein Cousin Martin Dibelius, Neutestamentler an der Heidelberger Universität, schätzte am Reformiertentum vor allem die Idee des demokratischen Miteinanders. Dem konnte Otto Dibelius aber nichts abgewinnen. Otto Dibelius wurde nie ein Freund der Weimarer Republik.
"Otto Dibelius war Parteimitglied der deutsch-nationalen Volkspartei, die zweifellos mit zu den Totengräbern der ersten deutschen Demokratie zählt. Es geht um die Revision des Versailler Vertrages und die Aufrichtung eines autoritären Regimes, also eine Art christlich-autoritärer Staat", sagt Manfred Gailus, außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin und Mitherausgeber des neuen Forschungsbandes über Otto Dibelius.
Gedanklich im 19. Jahrhundert steckengeblieben
Otto Dibelius blieb gedanklich im 19. Jahrhundert stecken. So war auch seine Vorstellung vom Bischofsamt die, dass er auf Lebenszeit gewählt wird und nicht abgewählt werden kann. Er hatte die Vorstellung, dass es diese souveräne Autorität brauche, um eine Gemeinschaft angemessen zu führen. Nicht von ungefähr ernannte Otto Dibelius sich nach dem Zweiten Weltkrieg selbst zum Bischof, ohne jegliche Legitimation durch eine Synode. Seitdem erst hat Berlin einen evangelischen Bischof. Ein Bischof auf Lebenszeit aber, da ist ihm die evangelische Kirche dann doch nicht gefolgt.
In der Weimarer Republik setzte Otto Dibelius sich für sein Ideal einer nationalprotestantischen Kirche ein - gegen die Sozialdemokratie, gegen den Kommunismus und gegen das Judentum. Aus seinem Antisemitismus hat er zeitlebens nie einen Hehl gemacht. Selten wie ein Theologe vor ihm nutzte er dafür die publizistischen Möglichkeiten seiner Zeit: Bücher, Artikel in rechtsnationalen Zeitungen, Rundfunkansprachen.
Dann aber gibt es auch die andere Seite des Otto Dibelius, nämlich die Fähigkeit, sich dem anderen politischen Lager zuzuwenden. 1930 etwa in seiner Friedensschrift, in dem er sich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen einsetzte. Lukas Bormann: "Das war dann für diese nationalkonservativen Chauvinisten, aus deren Kreis Dibelius eigentlich stammt, ein Bruch. Er hat schon verstanden, was dieses Massentöten bedeutet und dass es da keine sittlichen Fragen und sittlichen Bewährungen mehr gibt."
Festpredigt zur Machtergreifung Hitlers
Ein Engagement, das ihm die Deutschen Christen später übel nahmen und das zu seiner Versetzung in den Ruhestand führte, was Otto Dibelius wiederum zur Bekennenden Kirche brachte. Politisch aber blieb Otto Dibelius letztlich stramm rechts. So wie er den italienischen Faschismus und Benito Mussolini begrüßte, weil dieser die Kirche stärkte, so war er für den Nationalsozialismus, der das Christliche im Staat stärken sollte. Die Machtergreifung Adolf Hitlers begrüßte Otto Dibelius nicht nur, sondern er hielt auch beim Tag von Potsdam am 21. März 1933 die Festpredigt.
"Es war ein großes Ja zum politischen Umschwung und ein kleines verstecktes Nein zu Begleiterscheinungen. Das ist kurz zusammengefasst der Tenor seiner Predigt in der Nikolaikirche. Also das war keine distanzierende Predigt, das war schon gar nicht eine Widerstandspredigt", sagt Manfred Gailus heute.
Vor allem begrüßte Otto Dibelius das Dritte Reich, weil die Nazis nun etwas gegen das Judentum und die Juden in Deutschland unternahmen. Lukas Bormann: "Das hat er auch nach 1945 bestätigt, dass er sich immer dafür eingesetzt hat, dass jüdische Menschen im öffentlichen Leben keine tragende Rolle spielen sollen in Presse, Kultur und Politik, in den Institutionen des Staates, in der Justiz, an den Universitäten."
Ließ Landeskirchen Eigenständigkeit
Das alles schien Otto Dibelius nach 1945 nicht geschadet zu haben. Auch nicht, dass er seine Berliner Kirche nie entnazifizierte und selbst fanatische NS-Pfarrer wieder ins Amt ließ. 1949 wurde Otto Dibelius zum EKD-Ratsvorsitzenden gewählt. Er galt nun als der starke Mann, der den Landeskirchen aber ihre Eigenständigkeit ließ. Eine Grundidee, die für die Evangelische Kirche in Deutschland bis heute Gültigkeit besitzt.
"Das waren die Nachwirkungen der NS-Zeit. Diese Sorge schwebte im Hintergrund bei vielen Kirchenfürsten, dass man ihnen versuchen würde von oben etwas überzustülpen. Deswegen hat Dibelius ganz konsequent wieder und wieder darauf hingewiesen: Wir sind eine Einheit in der EKD. Aber eine Einheit in der Vielfalt der Landeskirchen", sagt der Kölner Kirchenhistoriker Siegfried Hermle, der einen Aufsatz über Otto Dibelius nach 1945 für den neuen Forschungsband geschrieben hat.
Und dann waren da noch die aus der Bekennenden Kirche hervorgegangenen Bruderräte, die Verhandlungen mit der SPD führten und sich für die Entmilitarisierung einsetzten. Gegen den Willen von Otto Dibelius. "Da hat er den Bruderräten vorgeworfen, dass sie hier eine Exklusivität für sich in Anspruch nehmen, die er nicht bereit war, ihnen zuzugestehen, weil sie damit andere Optionen, andere Gewissensentscheidungen als nachgeordnet hingestellt haben. Das ging für ihn nicht", so Hermle weiter.
Unterschrieb Militärseelsorgevertrag
Otto Dibelius setzte sich gegen seine Opponenten wie Martin Niemöller durch. Der EKD-Ratsvorsitzende war CDU-Mitglied und stärkte die Politik Konrad Adenauers. Er wehrte sich nicht gegen die Wiederbewaffnung. Andererseits protestierte er laut gegen die Drangsalierung der Christen in der DDR. Die SED startete daraufhin eine Diffamierungskampagne - gegen ihn als "NATO-Bischof". Denn 1957 unterschrieb Otto Dibelius den Militärseelsorgevertrag, den die DDR als Unterstützung des Westbündnisses verstand.
Ironie der Geschichte: Vor wenigen Jahren hat die Bundesrepublik nach diesem Vorbild einen Militärseelsorgevertrag mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland geschlossen. Dass es nun erstmals Militärrabbiner bei der Bundeswehr gibt, hätte der Antisemit Otto Dibelius mit Sicherheit nicht begrüßt.
Und Dibelius setzte nun seine Idee von 1930 um. Die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissengründen wurde im Grundgesetz festgeschrieben.
Dibelius, "ein gewiefter Stratege"
Obgleich Otto Dibelius konservativ geprägt war und sich praktisch nie für die Frauenordination einsetzte, wollte er doch das paulinische "Das Weib schweige in der Gemeinde" nicht auf ewig gelten lassen.
"Es ist schon ein Zeichen, wenn ein EKD-Ratsvorsitzender diese biblizistische Interpretation für überwindbar sieht. Und seine Berlin-Brandenburgische Kirche war eine derjenigen, die relativ früh Türen für Frauen geöffnet haben", sagt Siegfried Hermle.
Otto Dibelius blieb bis 1961 EKD-Ratsvorsitzender und starb 1967. War er also genau die Führungspersönlichkeit, den seine Kirche verdient hatte? Siegfried Hermle fasst es so zusammen: "Er war ein gewiefter Stratege. Er hat eher die konservative Mehrheit bedient, hat aber immer versucht, die Brücke zu der anderen Seite, der er ja verbunden war als Mitglied der Bekennenden Kirche, offen zu halten. Von daher war er für mich eine Persönlichkeit, die Wichtiges beigetragen hat zur Einheit der Kirche und im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Staat."
Das Leben des Otto Dibelius könne aber auch eine Warnung sein, sich eben nicht antidemokratischen Lagern anzubiedern, auch wenn es der Kirche scheinbar nützen könnte, sagt der Marburger Theologe Lukas Bormann: "Die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten ist ein Punkt, wo man von Dibelius‘ Fehlern lernen kann. Was können wir heute tun, um unsere demokratische Gesellschaft stabil zu halten und zu verteidigen."
Otto Dibelius, Neue Studien zu einer protestantischen Jahrhundertfigur,
Herausgegeben von Lukas Bormann und Manfred Gailus, 421 Seiten, Verlag Mohr Siebeck, 99,00 Euro.