Römische Soldaten, ein Kreuz, verzweifelte Gesichter. Schnitt: Hügelige Schneelandschaft zieht vorbei. Dazu erklingt aus dem OFF: "Sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben".
Erneuter Bildwechsel – zwei Männer auf einem Turm. Der eine zeigt in die Ferne und erklärt, dass dort der berühmte Filmemacher Pier Paolo Pasolini die Kreuzigung Jesu für seinen Film "Das erste Evangelium" 1964 gedreht hat.
Am Ende der nächsten Szene, die Migrant:innen in einer Barackensiedlung mit ihren unwürdigen Lebensverhältnissen vorstellt, wird mit der Einblendung des Filmtitels klar: Es geht um "Das neue Evangelium". Nichts weniger hat sich der Schweizer Regisseur, Theaterautor und Essayist Milo Rau vorgenommen zu inszenieren.
Er bleibt bei seinem Film in der Struktur des Anfangs. Der Regisseur nennt seine Arbeitsweise "utopische Dokumentation". Indem er eine Situation schafft, deren Fortgang ungewiss ist, entsteht täglich etwas Neues, das er dokumentiert und worauf er fiktional antwortet.
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Erst nach und nach erschließen sich im Film Personen und Orte. Immer wieder werden biblische Zitate eingeflochten. Kostümszenen wechseln mit dem Blick auf das Filmteam bei der Arbeit und dem Kampf der Migrant:innen gegen Ausbeutung und Diskriminierung.
Allen voran, der Kameruner Yvan Sagnet, ein Aktivist, der sich für die Rechte der Migrant:innen einsetzt. Und der in diesem Fall auch die Rolle des Jesus Christus in der Erzählungsversion von Milo Rau übernimmt. In der heutigen Zeit musste für den Filmemacher Jesus schwarz sein und gegen Ausbeutung kämpfen.
Zwischen Kunst und Politik, Ästhetik und Aktivismus
Als der süditalienische Ort Matera 2019 europäische Kulturhauptstadt wurde, kam die Anfrage der Stadt an den Regisseur, ein Projekt zu realisieren. Als Drehort von Pier Paolo Pasolinis und Mel Gibsons Bibelfilmen konnte das für ihn dann nur ein Jesusfilm sein. Gemeinsam mit dem Schauspieler Enrique Irazoqui, (Jesus in der Pasoliniverfilmung) und der Schauspielerin Maia Morgenstern (heilige Maria in Mel Gibsons "The Passion of Christ") machte er sich auf den Weg nach Matera.
Dort fand Rau Flüchtlingslager mit unzähligen Menschen ohne Papiere vor, die als Erntehelfer:innen von Obst und Gemüse ausgebeutet werden. Flugs war die Idee geboren, eine Mischung aus klassischem Jesusfilm und Kampagne zu entwickeln. Seit Jahren ist Rau zwischen Kunst und Politik, Ästhetik und Aktivismus unterwegs. Mit seinem Bild von Jesus als Sozialrevolutionär, der für die Würde des Menschen kämpft, sollte die Geschichte Bezüge ins Aktuelle haben.
In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung sagt Rau: "Das Neue Testament hatte im Unterschied zum Alten nie den Anspruch, nur eine historische Erzählung zu sein. Es will vor allem als Allegorie gelten. Also kann sich die Geschichte heute ebenso ereignen wie damals. Sobald eine Solidarität wächst, ist die in der Bibel beschriebene Möglichkeit der Revolte da.
Das Historische landet ganz im Realen und im Jetzt
In den letzten dreißig Minuten ist der Film nur noch der Passion Christi gewidmet – und das Historische landet ganz im Realen und im Jetzt. Pasolinis "Erstes Evangelium" hingegen war ein komplett unpolitischer Film. Die damalige Kritik fand ihn sentimental und todlangweilig, dabei war er zutiefst human. In jener politisch aufgeladenen Zeit wirkte seine Interpretation wie ein archaischer Schock. So hat jede Zeit ihren widerspenstigen Jesus-Film."
Denn "Das neue Evangelium" hat Dinge angestoßen, direkte Folgen gehabt - zum Beispiel in der Vernetzung von Aktivist:innen. So war für den Darsteller des Petrus, Papa Latyr Faye, ein weiterer Aktivist und Gründer der Organisation "Casa Sankara – Ghetto Out", der Film eine Gelegenheit, mit seinen Themen ein größeres Publikum zu erreichen.
Der Deutschen Welle gegenüber erklärte er: "Der Film war für uns kein Fremdkörper, sondern er wurde Teil unserer Arbeit, unseres Alltags als Aktivisten. Wir konnten dadurch mehr internationale Kontakte aufbauen und verstärken. Es war ein neuer Schritt in unserem Kampf, den wir produktiv nutzen konnten."
"Das neue Evangelium" bringt Menschen zusammen, die im normalen Leben nichts miteinander zu tun hätten. Sei das im übertragenen Sinn mit dem Publikum, das im Kinosaal auf der Leinwand fremde Menschen mit ihren Geschichten kennenlernt oder ganz reell vor Ort beim Dreh. Und der Film macht Hoffnung: darauf, dass Menschen trotz unüberwindbar scheinender Hürden gemeinsam etwas erreichen können.
evangelisch.de dankt indeon.de für die inhaltliche Kooperation.