epd: Frau Wendt, am 14. September halten Sie in Travemünde auf der Tagung für ehrenamtliche Seelsorgende in der Nordkirche einen Vortrag mit dem Titel "Wer nach allen Seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein." Was meinen Sie damit?
Vivian Wendt: Gerade Seelsorgende haben oft den Anspruch, dass sie für die Probleme anderer Menschen unendlich viel Verständnis und Zeit haben müssten. Aber das ist unrealistisch. Ich brauche Abstand zu meinem Gegenüber, um gesund und kommunikationsfähig zu bleiben, das liegt in meiner Verantwortung. Dazu gehört, dass ich Grenzen setze und ein Gespräch, zum Beispiel in der Telefonseelsorge, nach einer gewissen Zeit beende.
Und wie finde ich als Seelsorgende den Absprung? Oft habe ich ja einen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung, dem es richtig schlecht geht.
Wendt: Ja, das ist nicht leicht. Menschen, die lange nicht gehört wurden und merken, dass der andere das Gespräch beenden will, holen meistens nochmal richtig aus. Sie versuchen in einer Minute alle Katastrophen ihres Lebens zu benennen, um zu signalisieren, dass sie in Not sind.Da muss der Seelsorger oder die Seelsorgerin erklären, dass in einem Telefonat nicht über alles gesprochen werden kann. Es hilft dann der Satz: "Rufen Sie uns zu den anderen Themen bitte nochmal an."
Die Belastung durch solche Gespräche ist groß. Wie schafft man es, als Seelsorgende sich nicht zu sehr mit den Schicksalen zu identifizieren?
Wendt: Ich rate unseren Ehrenamtlichen in der Ausbildung zur Telefonseelsorge dazu, mit einer bestimmten Haltung in die Telefonate zu gehen. Diese Haltung ist quasi meine Berufskleidung, die ich nach der Schicht wieder ausziehe. Ich sitze dann in meiner Funktion als Seelsorgerin am Telefon und meine Aufgabe ist es, Halt und Hoffnung zu vermitteln. Mir muss bewusst sein: Retten kann ich niemanden, sondern nur begrenzte Zeit für ihn da sein. Dies gilt für alle in der Seelsorge Tätigen.
Und wenn einem das Gespräch trotzdem nach der Schicht noch nachgeht?
Wendt: Dann hilft Supervision, also der Austausch mit anderen Seelsorgenden, bei der Verarbeitung. In St. Georg habe ich mal in einem Projekt mit drogenabhängigen Frauen und Mädchen gearbeitet. Ohne Supervision hätte ich das nicht geschafft. Seelsorgende müssen sich immer wieder klarmachen: Wenn ich über meine Grenzen gehe, erschöpft bin und nachts nicht mehr schlafen kann, kann ich auch anderen nicht mehr helfen.
Eigentlich legt unsere Gesellschaft inzwischen ja sehr viel Wert auf Achtsamkeit und Selbstfindung, jedenfalls gibt es ein großes Angebot an Kursen und Büchern dazu.
Wendt: Einerseits ja, andererseits zeigt dieses Angebot auch, dass viele Menschen sich und ihre Grenzen verloren haben. In unserer Gesellschaft, in der das Kapital die Macht hat, herrscht ein lineares Lebensprinzip, alles soll immer schneller, höher und weiter gehen. In einer Autowerbung heißt es immer: "Alles ist möglich!" Aber das ist Quatsch.
Warum ist das Quatsch?
Wendt: Das Leben verläuft nicht linear, sondern dynamisch. Menschen sind begrenzt und verletzlich, wir werden alt, krank und hilfebedürftig. Statt uns bei Problemen rechtzeitig helfen zu lassen, vereinzeln wir in dieser Leistungsgesellschaft und denken, wir müssten mit allem alleine klarkommen. Es herrscht das Motto: Wer nicht leistungsfähig ist und durchpowern kann, ist der Looser. Das Ergebnis dieses idiotischen Prinzips erlebe ich jeden Tag bei meiner Arbeit in der Psychiatrie.
Das heißt, Sie sehen viele Ihrer Patientinnen und Patienten als Opfer des Kapitalismus?
Wendt: Im Grunde ja. 90 Prozent von ihnen haben sich aus dem Blick verloren, weil sie immer anderen geholfen haben, nur nicht sich selbst. Viele müssen sich mit Drogen (Alkohol etc.) betäuben, weil sie ihren Ansprüchen nicht gerecht werden, oder weil sie glauben, ihre Leistungsfähigkeit damit steigern zu können. Uns wird immer suggeriert, dass wir alles aus eigener Kraft schaffen können. Da bin ich froh, als Christin zu wissen: Nö, Gott kann mir zwar Kraft schenken, die ich gerade nicht habe, aber um Hilfe zu bitten, wenn es einem zu viel wird, ist klug und richtig.