Lothar Liebermann erreichte die Information vom Brand der Bibliothek über einen Anruf seines Schwagers, der in der Nähe des Unglücksortes wohnte. "Nach einem anstrengenden Arbeitstag war ich am 2. September abends gerade erst nach Hause gekommen", erinnert sich der Magazinmeister des Kompaktmagazins der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. "Natürlich bin ich sofort runter in die Stadt gefahren."
Hier ist er nur wenige Minuten nach Ausbruch des Brandes vor 20 Jahren mit einem Kollegen und einer Krankentrage immer wieder auf die zweite Galerie des Rokokosaals geeilt, hat Bücher aus den Regalen geräumt und sie im Treppenhaus abgekippt. Von dort aus brachten weitere Helfer sie in Sicherheit. Rund 50.000 Bücher konnten nicht gerettet werden, sie verbrannten vor 20 Jahren binnen weniger Stunden. Fast 120.000 weitere teils unschätzbar wertvolle Bände wurden beschädigt, etliche davon stark. Auslöser des Feuers war ein Kabelbrand.
Es sind Erlebnisse wie die von Lothar Liebermann, die die Klassik Stiftung Weimar als Eigentümerin der Bibliothek im Gedächtnis festhalten möchte: Seit einem Jahr holt sie Zeitzeugen vor die Kamera, fragt sie nach ihren Erlebnissen und Emotionen in der Brandnacht und bittet um private Fotos. Am 6. September sollen erste Interviews der Reihe online gestellt werden. Die Berichte, Fotos und auch Fundstücke sollen Bestandteil der Weimarer Sammlungen werden, sagt Bibliotheks-Direktor Reinhard Laube: "Sie gehören zu den Grundlagen für künftige Erinnerungen, für eine Bibliothek als Zukunftsspeicher."
Der Brand mit seinen katastrophalen Verlusten sei in vielerlei Hinsicht ein Einschnitt gewesen: So sei deutlich geworden, dass die Bestände der Anna Amalia Bibliothek umfassend digitalisiert werden müssten, um sie auch künftig nutzen zu können. Das gelte beispielsweise für die sogenannten Aschebücher, die aus dem Schutt geretteten Bücherreste. Und vor allem für viele Einzelblätter der Sammlungen: Sie seien meist schwerer geschädigt als die Bücher. "Viele Bücher standen 2004 in der Bibliothek so dicht beieinander, dass oft nur die Einbände und Randbereiche der Seiten verbrannten", sagt Laube. Für weitere Zerstörungen im Innenteil der Bücher habe dem Feuer dann der Sauerstoff gefehlt.
Aus angekohlten Überresten entstehen wieder Bücher
Schon vor Jahren habe die Restaurierungswerkstatt ein mehrstufiges Verfahren entwickelt, mit dem die beschädigten Bücher Seite für Seite gesäubert und an den Randbereichen nahtlos mit neuem Papier verbunden werden können. So entstehen aus den angekohlten Überresten wieder Bücher in zwar schmucklosen grauen Einbänden, die aber in die Hand genommen, digitalisiert und gelesen werden können. Insgesamt 1,5 Millionen Buchseiten gelten als restaurierungsfähig, mehr als zwei Drittel der Aschebücher sind schon erfolgreich wiederhergestellt worden. Experten aus Weimar werden mittlerweile deutschlandweit von Bibliotheken und Archiven angefragt, wenn es um die Restaurierung von Papier mit Brand-, Wasser- oder Schimmelschäden geht.
Für Laube sind die Zeitzeugeninterviews, die Restaurierung der Bücher und die Digitalisierung Bestandteile der künftigen Ausrichtung der Anna Amalia Bibliothek. "Future Memory" heißt das Projekt, das die Sammlungen für Fragen der Gegenwart öffnen solle. Die Bibliothek werde so zum Medienarchiv, in dem die Sammlungen vernetzt und im Internet der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Doch auch für den Katastrophenschutz war der Brand ein Fanal - zunächst in Weimar und inzwischen in ganz Thüringen. Schon 2007 wurde der "Notfallverbund Weimar" gegründet.
Hier verständigten sich die wichtigen Kulturinstitutionen der Stadt gemeinsam mit dem Amt für Brand- und Katastrophenschutz auf Gefahrenabwehrpläne für die einzelnen Häuser, identifizierten Einlagerungsorte für den Notfall und führten gemeinsame Notfallübungen durch. Heute gibt es solche Verbünde in jeder Thüringer Region. 2019 wurde der Feuerwehr Weimar ein klimatisierter Gerätewagen übergeben, der im Schadensfall einen sicheren und fachgerechten Transport von Kulturgut in Thüringen sicherstellen soll. Lothar Liebermann arbeitet heute in genau dem Depot unter dem Platz vor der Anna Amalia Bibliothek, in das die geretteten Bücher damals gebracht wurden.
Eine knappe Viertelstunde hatten er und die Helfer 2004 Zeit gehabt, bevor die Feuerwehr die obere Galerie absperrte. Während der gesamten Zeit habe Brandgeruch in der Luft gelegen. Zu diesem Zeitpunkt wütete das Feuer noch im Dachgeschoss. Bis sieben Uhr in der Früh habe er anschließend geholfen, die geretteten Bücher in das Depot unter dem Platz der Demokratie zu transportieren. "Was ich gedacht habe? Eigentlich nichts. Man funktioniert in solchen Situationen einfach", sagt Liebermann. Es sei ihm aber heute noch bewusst, dass er bis in die Morgenstunden hinein keinerlei Müdigkeit verspürt habe. Auch das gehört zur Erinnerung an das Unglück vom 2. September 2004.