Bemalung Kirche St. Nikolai
epd-bild/Rainer Oettel
Die Bemalung am Bogen der Apsis in der Kirche St. Nikolai in Constappel bei Meissen (Sachsen) zeigt Mose mit den Gesetzestafeln.
Ein Buch mit "70 Gesichtern"
Das Alte Testament aus Sicht von Christen und Juden
Wer aus demselben Buch liest, muss noch lange nicht dasselbe verstehen. Juden und Christen gehen sehr unterschiedlich an den ersten Teil der Bibel, das Alte Testament, heran. Zwei Wissenschaftler wollen das gegenseitige Verständnis nun verbessern.

Kein Buch hat die westliche Kultur so tief geprägt wie die Bibel. Das dicke Werk mit Texten aus über 1.000 Jahren verbindet die christlichen Konfessionen, aber auch die Kirchen mit dem Judentum. Denn die ersten zwei Drittel - von Christen "Altes Testament" genannt - sind die Heiligen Schriften Israels.

Gerade dieser Bezug zum jüdischen Glauben ist allerdings vertrackt, wie die US-Wissenschaftler Amy-Jill Levine und Marc Zvi Brettler in ihrem nun auf deutsch erschienen Buch "Hebräische Bibel und Altes Testament" erläutern. Denn Christen lesen das Alte Testament durch die Brille des Neuen Testaments und dessen zentraler Figur, Jesus Christus. Das führt zu teilweise völlig unterschiedlichen Interpretationen der Texte, die eigentlich von Christen und Juden gleichermaßen anerkannt sind.

Dabei darf man sich den Autoren zufolge auch die jüdische Auslegung nicht homogen vorstellen. Die Tora - das sind die fünf Bücher Mose - habe "siebzig Gesichter", heißt es in der alten rabbinischen Literatur. Dazu kommen Probleme, die den Theologen seit Jahrtausenden Kopfzerbrechen bereiten. Manche Wörter sind doppeldeutig, bei manchen ist aufgrund des Fehlens von Vokalen im Hebräischen die Bedeutung kaum zu klären. Dazu kommt der Verzicht auf Satzzeichen, weshalb Satzteile in unterschiedliche Bezüge gesetzt und dann unterschiedlich interpretiert werden können.

Levine und Brettler - beide jüdische Bibelwissenschaftler - wollen mit ihrem Buch Juden und Christen ins Gespräch bringen. Dafür suchen sie sich zentrale alttestamentliche Texte, analysieren ihre ursprüngliche Bedeutung und stellen dar, wie unterschiedlich jüdische und christliche Theologen sie in den Jahrhunderten verstanden haben.

Jesu Tod am Kreuz in der Glaubensgeschichte

Dabei halten die Autoren Überraschungen parat. So gibt es beim Propheten Jesaja Passagen über den "leidenden Gottesknecht", der unschuldig Strafen auf sich nimmt. Während dieser Text für Christen das zentrale Bild für Karfreitag ist, als Jesus Christus am Kreuz für die Sünden der Menschen stirbt, ist den meisten Juden dieser Abschnitt kaum vertraut, weil er in ihrer Glaubensgeschichte eine völlig untergeordnete Rolle spielt.

 

Dargestellt wird andererseits die eigenwillige Zitierweise, mit der sich neutestamentliche Autoren aus dem Alten Testament bedient haben. Da werden beispielsweise Sätze, die einen geschichtlichen Vorgang beschreiben, prophetisch auf Jesus Christus hin gedeutet. Die Moderne akzeptiert solche Zitierweisen nicht, doch die beiden Autoren halten das aus einem antiken Textverständnis heraus für durchaus legitim.

Ziel des Buchs ist nicht, die christlich-jüdische Einheit zu beschwören. Ganz im Gegenteil sollen die fundamentalen Unterschiede besser verstanden werden. Die Autoren machen sich das Wort des US-Judaisten Peter Ochs - Träger des Tübinger Leopold-Lucas-Preises 2023 - zu eigen: Man wolle durch gegenseitiges Verstehen lernen, "auf bessere Weise uneins zu sein".