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5. August, ARD, 23.35 Uhr
TV-Tipp: "Über Sex sprechen"
Kaum ein Thema war lange Zeit derart präsent, in den Köpfen wie auch in anderen Körperteilen, und dennoch so tabu wie die Sexualität.

In ihrer sehenswerten Dokumentation befassen sich Ina Kessebohm und Nadine Neumann mit den verschiedenen Etappen, die die Aufklärungsarbeit während der letzten hundert Jahre in Deutschland durchlaufen hat. Dabei zeigt sich, dass die Faktenvermittlung im Zweifelsfall nach wie vor eher lustfeindlich ist; vor allem, wenn es um die weibliche Lust geht. Im Vordergrund stehen die Entstehung des Lebens oder Empfängnisverhütung, doch die Wissensvermittlung konzentriert sich auf anatomische Vorgänge. Viel zu viele Facetten des komplexen Themenbereichs werden schamhaft ausgeblendet, etwa der Aspekt Menstruation.

Sinn und Zweck dieses 45 Minuten langen Streifzugs durch die Geschichte der Sexualität sind jedoch keine konkreten Appelle, selbst wenn die Dokumentation diverse Denkanstöße gibt. Sollte zum Beispiel sexuelle Aufklärung Sache der Eltern oder der Schule sein? Und inwieweit darf sich der Staat überhaupt einmischen? Aktuell gibt es zwei gegenläufige Strömungen: hier die immer buntere Regenbogenwelt der sexuellen Vielfalt, dort die Gegenbewegung eines zunehmenden Konservatismus, der Enthaltsamkeit vor der Ehe predigt und alles ablehnt, was von der bürgerlichen Norm abweicht. Schon Homosexualität ist in diesen Kreisen verpönt, und selbstredend soll im Schulunterricht nicht auch noch propagiert werden, dass Jungen oder Mädchen womöglich im falschen Körper zu Wort gekommen sind.

Mit spürbarem Bedauern stellen die durch diverse kluge Sachverständige aus Bereichen wie Kulturgeschichte, Sexualwissenschaft oder Geschlechterforschung unterstützten Autorinnen fest, dass die Gesellschaft schon mal viel weiter war. Die Freizügigkeit der Siebzigerjahre erfuhr jedoch spätestens Ende der Achtziger durch Aids ("neue Pest") einen ganz erheblichen Rückschlag. Nun wurde konsequente Treue als wirksamster Schutz vor der lange Zeit rätselhaften Krankheit propagiert. Die vermeintliche "Seuche" bot zudem eine offenbar willkommene Gelegenheit, männliche Homosexuelle zu diskriminieren. 

Wie schon bei ihrer vor gut einem Jahr ausgestrahlten zweiteiligen Arte-Dokumentation "Let’s talk about sex", mit der es einige Überschneidungen gibt, bieten Kessebohm und Neumann ein buntes Potpourri, das nun allerdings strukturierter und weniger sprunghaft wirkt. Aufgrund der jetzt nicht mal halb so langen Sendezeit werden viele Aspekte allerdings nur angerissen. Am interessantesten aus Sicht der sogenannten "Boomer"-Generation ist der Rückblick auf die Sechziger- und Siebzigerjahre, als Beate Uhse zur Aufklärerin der Nation wurde. Der auf Veranlassung des Gesundheitsministeriums gedrehte Dokumentarfilm "Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens" (1967) konfrontierte die Deutschen unter anderem mit Bildern einer Geburt, die ja bei aller Freude über das Wunder des Lebens kein schöner Anblick ist. Ein Jahr später informierte Oswalt Kolle mit seinem Aufklärungsfilm "Das Wunder der Liebe" (1968) ein Millionenpublikum über die in vielen Ehen zu kurz kommenden weiblichen Bedürfnisse. Dank der gesellschaftlichen Umwälzungen durch die "68er" drängte auch die Schülerschaft auf mehr Mitbestimmung und erreichte unter anderem die Einführung von Sexualkundeunterricht. Was sie wirklich über Sex wissen wollten, erfuhren sie jedoch vor allem von Dr. Sommer in der "Bravo". Eine kurze Stippvisite Richtung Osten zeigt, dass die DDR damals schon viel weiter war: Die Staatsführung gewährte freien Zugang zur Antibabypille, Abtreibung war erlaubt und Homosexualität schon seit 1968 nicht mehr strafbar.  

Natürlich verfolgten beobachteten gewisse Kreise die Entwicklung mit großer Skepsis: Seit es eine öffentliche Sexualaufklärung gibt, ist sie mit der Furcht verbunden, Jugendliche überhaupt erst auf den Geschmack zu bringen und zu verfrühter Sexualisierung zu verführen. Deshalb standen sich fortschrittliche und konservative Bewegungen seit jeher unversöhnlich gegenüber: Je stärker sich nach Einführung der "Pille" progressive Lehrkräfte für eine angemessene Sexualerziehung einsetzten, umso vehementer waren Ende der Siebziger die Protesten gegen solche "neuheidnisch-sozialistischen" Bestrebungen. Ein ähnlicher Trend ist heute wieder zu beobachten, und das nicht nur in den USA; auch hierzulande warnen reaktionäre Kreise vor der "Zerstörung der Kernfamilie", vor einer "Umerziehung der Kinder" und vor der "Abschaffung der natürlichen Geschlechter".