Wieder klingelt es. Ein Mann betritt die Bahnhofsmission. Er geht zum Tresen, bekommt ein Wurstbrötchen und einen Kaffee. "Möchten Sie auch eine Banane?", fragt Mitarbeiterin Dagmar Seel. Der Mann nickt und setzt sich an einen freien Tisch. Ringsum sind viele Plätze besetzt. "Sie machen ja zu hier", sagt jemand. Unter den Besuchern der Gießener Bahnhofsmission hat es sich längst herumgesprochen: Ende August schließt die Einrichtung.
Ein Mann mit Basecap und Silberkette am Arm blickt stumm vor sich hin, ein anderer hält den Kopf dicht an das Radio, das er sich eingeschaltet hat. Eine Frau redet fast ununterbrochen. Sie leide unter Depressionen, erzählt sie. "Ich brauche das hier, um rauszukommen." Im Café werde sie oft ausgelacht, aber in die Bahnhofsmission kämen viele Leute mit psychischen Krankheiten.
Viele ihrer Gäste müssten "richtig große Pakete tragen" - so beschreibt es die Leiterin Elisabeth Njionhou Njomehe. Einige hätten keine Wohnung, lebten unter prekären Umständen, seien von Sucht und - zunehmend - von psychischen Erkrankungen betroffen. Vielen älteren Menschen fehle ein familiäres Netz: Manche seien den ganzen Tag in der Stadt unterwegs und machten in der Bahnhofsmission Station.
Es klingelt wieder. Ein Mann probiert die Schuhe an, die auf der Fensterbank zum Mitnehmen stehen; sie passen nicht. Hier sei "kurzer Dienstweg", schildert ein Gast, der nur einen Kaffee trinkt: Man bekomme in der Bahnhofsmission schnelle Hilfe. Sie diene als Anlaufpunkt, an dem Informationen zusammenlaufen: Wo kriege ich ein Zimmer? Wie muss ich dieses Formular ausfüllen? Mein Zug ist ausgefallen, wie komme ich weiter? "Es gibt viele Leute, die hier etwas Fuß gefasst haben", sagt der Mann. Die Gäste helfen sich auch untereinander.
EKHN-Sprecherin: Schließung ist bedauerlich und schmerzhaft
Im hinteren Raum packen Dagmar Seel und ihre Kollegin Verena Joseph Brote in blaue Plastiktüten. Die Tafel hat an diesem Tag viele Lebensmittel geliefert. Was sie nicht einfrieren können, verteilen die beiden ehrenamtlichen Helferinnen an die Besucher. "Unseren Gästen wird enorm was fehlen", sagt Seel. Grund für das Aus ist ein Trägerwechsel von der Diakonie Hessen zur Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN).
Deshalb könne die Diakonie Hessen nicht mehr wie bisher Geld aus Lotto-Mitteln weiterleiten, heißt es bei der Diakonie. "Die Entwicklung unserer Mitgliederzahlen in den vergangenen Jahren und die damit verbundenen rückläufigen Einnahmen haben leider Konsequenzen", erklärt die EKHN-Sprecherin Caroline Schröder. "Diese zeigen sich nun auch in Form von Einschnitten bei gesamtgesellschaftlich wichtigen Aufgaben." Das sei "bedauerlich und schmerzhaft".
Bahnhofsmissionen sind Einrichtungen der evangelischen und katholischen Kirche. Aufgrund sinkender Kirchensteuereinnahmen werde es für die Träger immer schwieriger, die Kosten für den Betrieb zu decken, erklärt Gisela Sauter-Ackermann vom Verein Bahnhofsmission Deutschland. "Leider hatten wir in den vergangenen Jahren erste Schließungen von Bahnhofsmissionen zu verzeichnen." Mit dem Aus für die Einrichtung in Gießen verringere sich die Zahl der Bahnhofsmissionen in Deutschland nun auf 99. Gleichzeitig stiegen die Herausforderungen für die sozialdiakonische Arbeit an den Bahnhöfen.
Dagmar Seel füllt einem Mann die Trinkflasche auf. Viele Gäste kämen mit kleinen Anliegen, erzählen die Mitarbeiterinnen: am Kopierer kurz was kopieren, Handy aufladen, ein Telefonat führen, einen Arzt am Computer raussuchen oder die Frage beantworten: "Wann fährt mein Zug?" Auch die Hilfe am Bahnsteig beim Umsteigen gehört noch immer zur Arbeit. Wenn die Bahnhofsmission schließt, "wird die Problematik für den Bahnhof nicht kleiner", sagt Seel.