Vor zwei Monaten hat das ZDF bereits den dritten "Wendland"-Film gezeigt; heute wiederholt das "Zweite" noch mal den Auftakt aus dem Jahr 2022. Die Reihe ist das Nachfolgeformat für "Neben der Spur", die Figuren sind jedoch völlig andere, auch wenn der Schauplatz Hamburg zunächst der gleiche ist. Anstelle des Metropolen-Thrillers, der sich förmlich aufdrängt, erzählt Josef Rusnak jedoch eine Geschichte aus der Provinz. Hier die glitzernden Lichter der Großstadt, dort die Betulichkeit des ländlichen Wendlands: Größer könnte der Kontrast kaum sein.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Gerade deshalb entwickelt "Stiller und die Geister der Vergangenheit" einen ganz eigenen Reiz, zumal der Handlungsort beim älteren Teil des Publikums umgehend Erinnerungen weckt: Die Bilder der Polizisten, die auf friedliche Demonstranten einprügeln, sind gut vierzig Jahre alt, aber immer noch sehr präsent. Die Proteste gegen das Atommüllendlager in Gorleben haben zusammen mit dem Widerstand in Brokdorf und Wackersdorf eine ganze Generation geprägt. Wenn ein Krimi schon im Wendland spielt, wäre es geradezu fahrlässig, die Vergangenheit nicht wieder aufleben zu lassen.
Zunächst handelt der Krimi aber von einem ganz anderen Ereignis, das sich allerdings nur als Vorgeschichte entpuppt: Ein Einsatzkommando des Hamburger LKA will auf der Reeperbahn eine Bande von Rauschgifthändlern festnehmen. Als eine Frau mit Kinderwagen die Szenerie betritt, verzögert einer der Beamten den Zugriff, doch ein übereifriger Kollege stürmt mit den anderen Männern los. Am Ende ist der Einsatz zwar erfolgreich, aber die Mutter tot.
Jahre später macht eine junge Kriminalrätin Jakob Stiller ein Angebot, das er fast nicht ablehnen kann. Er war der Polizist, der die anderen damals zurückhalten wollte; anschließend ist er auf eigenen Wunsch in die Asservatenkammer gewechselt. Weil der tragische Vorfall unter den Teppich gekehrt wurde, hat er einen Tatsachenroman geschrieben, der den Kollegen klar als Schuldigen benennt. Nun wird er zum Hauptkommissar befördert und als neuer Revierleiter von Dahlow ins Wendland weggelobt; im Gegenzug soll er eine eidesstattliche Unterlassungserklärung unterschreiben. Dass es seine Tochter Ayana (Sylvana Seddig) ist, die ihm das Angebot unterbreitet, macht die Sache nicht besser.
Perfekte Voraussetzungen also für ein Krimidrama, zumal der zwielichtige Kollege (Andreas Anke) Stiller anzeigt und Ayana bedroht, aber Josef Rusnak (Buch und Regie), der mit Noethen auch die letzten beiden Episoden von "Neben der Spur" gedreht hat, wechselt nach dem packenden Prolog radikal Tempo und Vorzeichen: Aus dem Thriller wird ein Landkrimi. Kaum ist Stiller einen Tag vor dem eigentlichen Amtsantritt am neuen Arbeitsplatz eingetroffen, gibt es prompt einen Toten: Anscheinend hat sich Biobauer Kraus erschossen.
Vorgänger Fauth (Dominic Raacke) tut den Fall umgehend als Suizid ab, muss aber kurz darauf einräumen, was sein Nachfolger längst erkannt hat: Die Pistole befindet sich in der falschen Hand. Die ballistische Untersuchung ergibt zudem einen verblüffenden Treffer: Mit derselben Waffe ist bei einem Banküberfall vor gut vierzig Jahren, als im Wendland die Schlacht ums Endlager tobte, eine Kassiererin erschossen worden. Die Täter wurden nie gefasst, und Stiller erkennt: Um den Mörder von Kraus zu finden, muss er den alten Fall lösen. Irgendwem ist jedoch jedes Mittel recht, um zu erreichen, dass die Vergangenheit tot und begraben bleibt.
Die Geschichte ist auch dank diverser Nebenfiguren so komplex wie eine Romanverfilmung. Außerdem eilt dem Radfahrer Stiller, der kein Blut sehen kann, der Ruf als vermeintlicher Kriminalschriftsteller voraus, und weil er ständig auf die Spuren des einstigen Widerstands in der "Republik Freies Wendland" stößt, spielen die damaligen Jahren nicht nur wegen des früheren Verbrechens eine wichtige Rolle; das entsprechende Dokumentarmaterial ist ebenso harmonisch in die Gegenwartshandlung integriert wie die späteren Rückblenden.
Zum Schauplatz passt nicht nur Rusnaks entspannte Inszenierung, sondern auch die leicht angerockte Musik; zeitgenössische Songs unterfüttern die nostalgischen Anwandlungen. Treffend ist auch die Besetzung, unter anderem mit Ruh Reinecke als ältere Dame, deren Demenz gnädig für das Vergessen eines traumatischen Erlebnisses gesorgt hat. Paula Kalenberg spielt Stillers Mitarbeiterin, deren Ehefrau die Wirtin des örtlichen Gasthofs ist. Kira Engelmann ist zwar vom kriminalistischen Scharfsinn ihres neuen Chefs beeindruckt, denkt angesichts seiner mitunter mangelnden Fähigkeit zur Empathie jedoch über eine Versetzung nach. Das lässt sie hoffentlich bleiben: Der alte Hase und die junge Kollegin sind sowohl als Figuren wie auch darstellerisch ein sehenswertes Gespann.