Ihm geht es dabei besonders um die Frage, ob sie einen Nährboden für die Entstehung von Ressentiments bildet. Vogel ist Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen.
epd: Herr Professor Vogel, ist Einsamkeit eine neue Volkskrankheit?
Berthold Vogel: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber wir wissen, dass Isolation, Mangel an Kontakten und sozialer Rückzug seelisch und physisch krank machen, und dass Einsamkeit für immer mehr Menschen in allen Altersgruppen und Schichten ein Problem ist. Mit deutlich wachsender Tendenz. Etwa ein Viertel der Bevölkerung klagt heute darüber. Die Pandemie hat diese Erfahrung verstärkt, aber sie war nicht der Auslöser, sondern eher ein Beschleuniger.
Warum fühlen sich heute so viele Menschen einsam?
Vogel: Die Ursachen sind vielschichtig. Drei wesentliche Faktoren können wir aber benennen: Erstens der Verlust öffentlicher Räume und sozialer Kreuzungspunkte, also die abnehmende Bedeutung von Vereinen, Parteien, Kirchen. Zweitens der Strukturwandel der Arbeit. Damit ist nicht nur das Homeoffice angesprochen, sondern die Vereinzelung in der Erwerbsarbeit durch veränderte Organisationsformen der Berufstätigkeit. Arbeiten heißt heute vielerorts, dass sich alles ständig verändern und optimieren muss. Das schafft aber gerade keine sozialen Bindungen. Drittens haben sich Lebensformen und familiäre Beziehungen verändert. Denken Sie an den hohen Anteil an Ein-Personen-Haushalten. Das sind ältere Menschen, die ihren Partner verloren haben, aber eben auch Berufstätige, die darunter leiden, dass ihnen stabile soziale Beziehungen fehlen.
Alleinsein empfinden viele Menschen allerdings oft als wohltuend. An welchem Punkt überschreitet das Alleinsein die Schwelle zur Einsamkeit?
Vogel: Wenn ich die Fähigkeit verliere, meine sozialen Kontakte zu gestalten. Einsamkeit hat immer etwas mit dem Verlust der Gestaltbarkeit des eigenen Lebens zu tun. Gelegentlich allein zu sein, ist hingegen ein Wunsch, den ich selbst gestalten kann. Den verspüren wir alle. Aber das hat nichts mit der pathologischen Erfahrung von Einsamkeit zu tun. Einsamkeit entsteht durch Bindungs- und Gestaltungsverluste. Die Welt, die mich umgibt, ist nicht mehr meine. Meine Mitmenschen haben mir nichts mehr zu sagen. Ich habe den Eindruck, nicht mehr mitzukommen. Der Lauf der Zeit findet ohne mich statt. Einsamkeit ist die Summe aus Bitterkeit und Weltverlust.
In Ihrem Buch setzen Sie Einsamkeit in eine Verbindung zu Ressentiments. Entwickelt denn jeder Einsame automatisch Ressentiments?
Vogel: Sicher nicht. Aber uns geht es darum, auf die Verbindung aufmerksam zu machen. Einsamkeit ist eben ein soziales Gefühl. Und daraus entwickeln sich Haltungen gegenüber der Gesellschaft. Die Verdrossenheit und die Unzufriedenheit unserer Tage und der Aufschwung derjenigen, die diese schlechte Laune erfolgreich politisch bewirtschaften, haben ja etwas mit fehlenden sozialen Beziehungen und Korrektiven zu tun, also mit Einsamkeit.
Was verstehen Sie unter Ressentiments?
Vogel: Im Ressentiment spiegelt sich Ohnmacht. Alle anderen profitieren, nur ich nicht. Die Welt, so wie sie ist, wird als feindlich und abgewandt erlebt. Ressentiments sind so etwas wie eine emotionale Selbstvergiftung. Man findet zu Gesellschaft und Öffentlichkeit kein positives Verhältnis und in dieser Folge auch nicht mehr zu sich selbst. Ressentiments provozieren daher Verschwörungsvorstellungen jeder Art. Daher leben alle autoritären politischen Parteien und Regime vom Management der Ressentiments. Sie wissen, wie man Minderwertigkeitskomplexe und Ohnmachtserfahrungen befeuert und am Leben erhält.
Wie bauen sich bei einsamen Menschen Ressentiments auf?
Vogel: Das Grundproblem der Einsamkeit ist, dass ein Gegenüber fehlt. Einsame Menschen haben keine Resonanzräume, die sie in ihrem Wert und auch in ihrer Besonderheit akzeptieren, aber sie eben auch kritisieren, korrigieren und mal auf den Boden der Tatsachen holen. Vereinzelung und Verbitterung greifen ineinander. Einsamkeit ist daher die perfekte Grundlage, ein idealer Nährboden für Ressentiments.
Wie kann ich aus Ressentiments herausfinden?
Vogel: Schwer, denn Ressentiments haben etwas Toxisches und sie haben die Eigenschaft, sich immer wieder selbst zu bestätigen. Eine fatale Rolle spielen hier übrigens die sogenannten sozialen Medien, die in ihrer ganzen brutalen Asozialität darauf abzielen, ihre Nutzer in einer Schleife der Selbstbestätigung zu halten. Da kommt ja kein frischer Wind ins Zimmer, sondern es bleibt alles verriegelt. Kein Wunder, dass sich Radikale und Extremisten dieser Medien so virtuos bedienen.
Warum sind Ressentiments so gefährlich für eine Gesellschaft?
Vogel: Auf Ressentiments lässt sich kein Vertrauen aufbauen. Aber Vertrauen ist die Grundlage von Freiheit, von Sicherheit und wechselseitiger Verpflichtung, von Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Eine Gesellschaft der Ressentiments ist eine autoritäre, enge und missgelaunte Gesellschaft. In einer Atmosphäre der Missgunst kann sich keine offene und demokratische Gesellschaft entfalten.
Radikalisieren sich einsame Menschen im Internet?
Vogel: Ja, das Netz ist auch eine Radikalisierungsmaschine, indem es radikale Haltungen bestätigt, ihnen Aufmerksamkeit verschafft. Im Netz gibt es niemanden, der oder die einen bremst, korrigiert oder auch mal Widerworte gibt. Das Internet entfaltet einen Sog der Selbstbestätigung, der Einsame noch einsamer macht.
Was können Gesellschaft und Politik gegen die Einsamkeit tun?
Vogel: Man kann niemanden zur Geselligkeit zwingen. Aber es ist möglich, Orte und Gelegenheiten zu schaffen, die Gemeinschaft und Zusammenkommen ermöglichen. Eine Strategie gegen Einsamkeit muss soziale Orte, gemeinsame gesellschaftliche Kreuzungspunkte, öffentliche Räume schaffen, die es unterschiedlichen sozialen Gruppen möglich machen, einander zu begegnen. Der schön gestaltete Stadtpark, die Bibliothek, die zugleich auch Café und Begegnungsort ist, die Mehrgenerationenhäuser, die betreutes Wohnen und Kindergarten zusammenbringen, sind gute Beispiele hierfür.
Welche Rolle kommt dabei den großen Institutionen zu, etwa den Kirchen?
Vogel: Eine sehr wichtige. Schon heute sind Kirchen wichtige Begegnungsorte gerade in Regionen, in denen sich öffentliche, staatliche, kommunale Infrastrukturen zurückgezogen haben. Kirchen haben vor Ort häufig noch die Infrastruktur, die es braucht. Den Gemeindesaal, das Pfarrhaus, den Jugendclub. Und Kirchen mobilisieren immer noch in erheblichem Maße Ehrenamtliche. Das darf man nicht übersehen. Kirchennahe Institutionen sind oft die letzten sozialen Kreuzungspunkte vor Ort, wenn die kommunale Verwaltungsstelle, das Wirtshaus, die Bankfiliale, der Gesangs- oder auch der Sportverein schon längst ihre Pforten geschlossen oder ihre Aktivitäten erheblich reduziert haben.
Jens Kersten, Claudia Neu, Berthold Vogel: Einsamkeit und Ressentiment, Hamburger Edition 2024, 184 Seiten, 15 EUR, ISBN 978-3-86854-387-2
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