Porträt Norbert Roth
Privat
Norbert Roth, Jahrgang 1973, ist Kaminkehrer, Psychologe und Theologe.
Bayerische Kirche ist auf dem Weg
Kirche wird sich geistlich neu orientieren
Norbert Roth ist evangelischer Pfarrer der Münchener Gemeinde St. Matthäus. Er denkt gerne unkonventionell, was sich auch in seiner Biografie zeigt. Gelernt hat Norbert Roth Kaminkehrer, bevor er dann Theologie und Psychologie studierte und zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Heute ist er in verschiedenen Gremien vertreten, veröffentlicht Bücher und wirkt an der Zukunft seiner Landeskirche mit. Besonders interessieren ihn die digitalen Möglichkeiten und Herausforderungen für Kirche. Katrin von Bechtolsheim, evangelisch.de-Redakteurin, hat mit ihm gesprochen.

evangelisch.de: Kirche muss sparen, das ist klar. Mitglieder schwinden. Muss sich die Kirche jetzt nicht nur finanziell neu aufstellen?

Dr. Norbert Roth: Wenn es nur an den finanziellen Potenzen hinge, ob Kirche wächst oder nicht, das wäre armselig. Es gab Zeiten, das war Kirche finanziell wesentlich schlechter beieinander und trotzdem ging es ihr geistlich und personell total gut. Diese durch Steuergelder gut finanzierte Tätigkeit, die wir jetzt erleben, die ist relativ jung. 

Ich glaube, die Kirche muss sich auch institutionell verändern. Der Apparat ist groß und träge. Kirche reagiert zu langsam in unserer digitalisierten Welt. 

Können Sie das konkreter benennen? Wo ist der Verwaltungsapparat zu aufgebläht?

Roth: Der Verwaltungsapparat ist sehr ausdifferenziert. Ich will das Wort aufgebläht vermeiden, denn Verwaltung ist nicht grundsätzlich schlecht. Aber die Ausdifferenzierung ist wahnsinnig groß, so dass manche Sachen doppelt und dreifach bearbeitet werden müssen. Zum Beispiel im Thema Flexibilität im Personalwesen. Der Beruf der Pfarrerin und des Pfarrers hat durch die Verbeamtung eine großartige Absicherung. Aber viele junge Leute wünschen sich das anders. Sie wollen in einer loseren Bindung an die Kirche arbeiten dürfen und dadurch flexibler sein. Andererseits würde das auch für die Institution ein Vorteil bedeuten, weil man mit Personal anders umgehen kann. Durch dieses Verbeamtet-Sein sind wir auch in unserer Zuweisung an Gemeinden oder an bestimmte Arbeitsplätze sehr starr.

Wo sehen Sie weiteres Potenzial?

Roth: Klar, Kirche wird sich finanziell verändern und auch institutionell. Und, das ist meine ganz persönliche Ansicht: Kirche wird sich auch geistlich neu orientieren und vergewissern müssen. Wir leben in einer Zeit, die die großen theologischen und religiösen Fragen stellt: Dabei sind diese Fragestellungen oft so individualisiert, dass man ihnen mit einer groben, dogmatischen Einteilung in katholisch, evangelisch und orthodox nur bedingt nahe kommen kann. 

Wir haben gemerkt, dass wir gut überlegen müssen, warum wir bestimmte Strukturentscheidungen treffen wollen. Was steckt an geistlichen Fragen dahinter?

Wir haben in Bayern einen Transformationsprozess, der andauert. Das ist nicht nur ein Struktur-Veränderungsprozess. Wir haben uns als Team hier immer die Frage gestellt: Warum tun wir das? Aus welchen geistlichen Beweggründen? Was ist der Auftrag der Kirche? Zuerst das Why, dann das How und schließlich das What. 

Wir könnten Strukturen eigentlich leicht verändern. Das spart vielleicht ein bisschen Geld, aber provoziert sofort die nächsten Strukturveränderungen. Und dann wieder die nächste, dann wieder die nächste. Und wir haben gemerkt, dass wir gut überlegen müssen, warum wir bestimmte Strukturentscheidungen genauso treffen wollen. Was steckt an geistlichen Fragen dahinter? Dann haben wir immer von dem aus verändert, was der Kirche als Grundauftrag mitgegeben ist. Die Struktur muss dem Auftrag angepasst werden und nicht umgekehrt. 

Können Sie das einmal an einem Beispiel erklären? 

Roth: Strukturen haben eine eigene Selbsterhaltungsträgheit. Sie wollen so bleiben, wie sie sind und sie sind auch wahnsinnig mächtig. Obwohl wir als evangelische Kirche eigentlich sehr strukturliberal sein wollen, sind wir unglaublich strukturkonservativ. 

Zum Beispiel  sei die konkrete Kirchengemeinde genannt. Menschen wohnen innerhalb der Grenzen dieser Körperschaft, der Gemeinde. Wenn sie zwei Straßen weiter wohnen, gehören sie automatisch zu einer anderen Gemeinde. Das ist eine alte Logik und insofern positiv, weil es klare Zuständigkeiten gibt. Es ist immer transparent, wohin sich jemand mit seinen Fragen oder Bedürfnissen wenden kann. Gleichzeitig ist aber in so einem urbanen Kontext wie bei uns durchaus möglich, über diese Grenzen hinaus zu arbeiten und bestimmte Sachen gemeinsam zu machen mit der Nachbarpfarrei. Aber nein, momentan ist es so, dass alles auf eine Gemeinde zugeschnitten sein muss und da sind Veränderungen ziemlich schwierig. Das meine ich mit Struktur. Das zu verändern ist total mühsam.

Wie kann hier Digitales helfen?

Eine digitale Kirche ist nicht einfach nur eine digitalisierte Kirche. Digitalität bedeutet totalen Umbruch in ganz vielen Wahrnehmungsgewohnheiten oder Sendungsgewohnheiten. Wir haben zum Beispiel innerhalb der Social Media die Sinnfluencer und die treten nicht primär als Repräsentanten der Kirche  auf, sondern als Individuen. Da legt eine junge Pfarrerin und ein junger Pfarrer über das eigene Glaubensleben, über das Privatleben, über Beziehungsleben, über die Gottesbeziehung Zeugnis ab. Zusätzlich sind sie auch noch Mitglied der evangelischen Landeskirche oder katholischer Priester. 

Früher wurde der Pfarrer auch durch den Talar als Teil und Repräsentant der Institution gesehen und sendete damit  mit einer anderen Subbotschaft. Also nicht persönlich individuell, sondern für die Gemeinschaft und die Institution. Das hat sich jedoch verändert. Digitalität kann insofern helfen, dass wir dort Entlastungsmoment schaffen könnten. Manche sind begabt und geübt darin in der digitalen Welt präsent zu sein, manche sind weniger begabt.  Manche wollen das, manche wollen das nicht. Das zweite ist: Digitalität kann viel Verwaltungshilfe leisten. Momentan schaut es noch so aus, dass die Digitalisierung mehr Arbeit bringt, als dass sie Aufgaben einspart. Aber das ist wie eine Kurve. Irgendwann ist der Zenit erreicht und wenn der Aufwand dann wegfällt, diese ganze digitale Infrastruktur zu schaffen, dann wird auf jeden Fall für alle die Arbeit leichter. 

Wann wird das Ziel in Bayern erreicht sein?

Total offen. Zum Ende dieser Dekade sollen viele Sachen erreicht sein. Da ist noch ein bisschen Zeit. Aber ich glaube, das ist realistisch.

Sollten Pfarrer:innen auf Social Media gehen?

Roth: Einige Kollegen machen das. Ich bin jetzt kein junger Pfarrer mehr und lange im Geschäft. Instagram und Facebook nutze ich. Aber bei TicToc zum Beispiel bin ich schon gar nicht mehr. Ich steige nicht mehr durch. Wir haben ein Pilotprojekt in Bayern laufen, dass junge Kolleginnen und Kollegen, die sich auf Social Media sehr engagieren, sogar für diese Arbeit frei gestellt werden. Weil die Kirche sagt: Okay, baut  das weiter aus und nutzt es für die Kontakte, die ihr da online pflegen könnt.

Es gibt eine stabile Digitalgemeinde, die den Gottesdienst zu Hause oder von wo auch immer mitfeiert.

Wo kann Digitales sonst noch zum Einsatz kommen? 

Roth: Corona hat da viel verändert. Ich kann für meine Gemeinde sprechen. Als die Inzidenzzahlen stiegen - es gab noch keinen Lockdown, gingen die Gottesdienstbesucherzahlen drastisch zurück, weil vor Versammlungen gewarnt wurde. Wir haben in unserer Gemeinde sofort angefangen, völlig hemdsärmelig über die Handykamera auf dem Facebook-Account die Gottesdienste zu streamen, haben das dann im Laufe der Zeit weiter professionalisiert und auf YouTube verlagert. Alle Gottesdienste und Tagzeitengebete laufen bei uns bis heute im Livestream weiterhin mit. 

Es haben sich quasi zwei Gemeinden gebildet. Der größere Teil kommt wieder analog in den Gottesdienst. Aber es gibt eine stabile Digitalgemeinde, die sich gleichzeitig einschaltet und den Gottesdienst zu Hause oder von wo auch immer mitfeiert. 

Kommt das auch im Seelsorgerischen zur Anwendung? 

Das haben wir jetzt noch nicht als Angebot fest etabliert. Wäre aber durchaus möglich. Ich würde ein intensives Seelsorgegespräch, wo es auch um Beichtgeheimnis und um Beichtinhalte geht, nur ungern über Facetime laufen lassen wollen. Weil ich nicht sicher bin, ob es sicher ist. Nur in der größten Not würde ich das machen. 

Was macht Digitales und Internet mit dem Glauben? 

Das ein ganz wichtiger Punkt,. Man kann über Verwaltungsbereich, über Verkündigung sprechen, man kann über digitale Formate, Seelsorge, Influencer bei Social Media, man kann über viele Digitalitätsmomente und Möglichkeiten sprechen. Ich habe immer darauf Wert gelegt: Wenn wir uns als Kirche in der Digitalität verändern, müssen wir uns auch im Bereich digitale Theologie entwickeln. Was macht Digitalität mit unserer Theologie? Was heißt Unsterblichkeit im Netz? Ja, wie kann ich über eine Parallelwelt, in die ich mich einschalte, über Gott nachdenken? Was ist Erlösung im Netz? Was ist Vergebung im Netz? Was ist Sünde im Netz? All die großen dogmatischen Themen, über die sich über viele hundert Jahre die Menschen den Kopf zerbrochen haben und kluge Sachen gedacht und entwickelt haben. Wir müssen das neu überprüfen, weil wir das alles auch digital framen und kommunizieren müssen. Das beste Beispiel ist das Thema Unsterblichkeit. Was heißt Sterblichkeit und Unsterblichkeit angesichts einer digitalen Ermöglichung?

Können Sie das erklären?

Roth: Nach dem Tod eines Menschen gehen 20, 30, 40 Jahre ins Land. Die Kinder sterben, die Enkel sterben und dann ist die Person wahrscheinlich tatsächlich auch vergessen. Aber die digitale Welt verändert das. Man kann da unvergessen bleiben. Welches Versprechen wird da ausgelöst? Da gibt es viele offene Fragen, finde ich.

Das sind Themen, die noch nicht zu Ende gedacht sind. Und ja, ist Segen digital möglich?

Sie haben noch keine Antwort auf die Frage nach der digitalen Unsterblichkeit?

Roth: Nein. Digitalität bedeutet auch Simplifizierung. Einerseits ist Digitalität hochkomplex und gleichzeitig simplifiziert sie vieles. Die Simplifizierung beinhaltet große Gefahren, finde ich, weil komplexe Zusammenhänge in der Welt vermeintlich auf Plus und Minus reduziert werden können. Entsprechend wird kommuniziert. Wie gehen wir mit Schuld, mit echter Schuld und nicht nur mit Schuldgefühlen um? Wie gehen wir mit anderen Meinungen zu politischen Themen um? Das ist alles noch nicht wirklich bearbeitet.

Wird es eine digitale Kirche geben oder kann sie nur analog funktionieren?

Roth: Ja und nein. Kirche kann digital funktionieren, aber sie endet in ihrer Möglichkeit dann, wenn Präsenz notwendig wird. Zum Beispiel bei den Sakramenten. Ich kann niemanden digital taufen. Ich kann nur ganz schwer digital Abendmahl feiern. Da wird auch theologisch gestritten. Geht das überhaupt, dass hier in München jemand die Einsetzungsworte spricht und jemand in Hamburg feiert gleichzeitig Abendmahl? Geht das? Manche sagen: Ja, es sei unproblematisch. Andere sagen, eine Dimension des Abendmahlsgeschehens ist hier völlig ausgeblendet. Nämlich die Communio als echte Tischgemeinschaft. Die ist ja nur virtuell, die ist nicht ganz echt. Aber sie ist doch nicht unecht, nur weil sie virtuell ist. Das ist ja auch eine Echtheit. Das sind Themen, die noch nicht zu Ende gedacht sind. Und ja, ist Segen digital möglich? 

Vielleicht liegen die digitalen Möglichkeiten eher im Servicebereich. Sobald es um den Glauben geht, ist eben doch die Gemeinschaft entscheidend. Die körperliche Gemeinschaft, die ja auch den Glauben trägt. Kann das eine Onlinegemeinde leisten? 

Roth: Ich finde, sie kann. Jeder, der Corona mehr oder weniger als Single überlebt hat, weiß wie hilfreich die digitale Gemeinschaft war. Ich bin zwar nicht alleinstehend, aber auch ich habe meine engen Freunde immer wieder digital gesehen. Freundschaft war spürbar. Aber wir haben danach oft darüber gesprochen, dass es nie und nimmer ersetzt, dass wir live beieinander sitzen.

Ohne den Menschen geht es eben auch nicht.

Roth: Wir sind körperliche Wesen, wir sind Biologie. Zum Beispiel unser Gespräch jetzt hier. Sie kriegen meine Körpersprache nicht mit, sie kriegen meine Mimik nicht mit. Man kriegt nur die reine verbale Botschaft serviert. Alles Nonverbale fehlt. Das kann Digitalität nicht ersetzen, das schafft sie nicht.