Was macht eine Musikvermittlerin, Frau Schmidt?
Tamara Schmidt: Sie schafft Begegnungen und stellt Bezüge her – zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Musik. Es geht ihr darum, Kulturgut lebendig werden zu lassen, auf die Musik neugierig, sie erfahrbar zu machen, ein vertieftes Hören zu ermöglichen, und das am Puls der Gesellschaft. Zur Arbeit gehört ganz viel Kommunikation – in Richtung der Menschen, mit denen wir arbeiten, aber auch in Richtung der beteiligten Institutionen: Theater, Konzerthaus oder Kirche.
Musikvermittlung findet in verschiedenen Formaten statt. Gängig sind Konzerte, die dramaturgisch gestaltet, für bestimmte Zielgruppen inszeniert werden, um ihnen Zugänge zur Musik und den Themen, die sie verhandelt, zu öffnen. Es gibt aber auch Workshops, Bildungs- oder Kompositionsprojekte mir Jugendlichen. In jüngster Zeit initiieren wir vermehrt Communityprojekte mit sozial marginalisierten Gruppen. Wir verlassen die angestammten Orte, an denen die Musik normalerweise erklingt, also die Kirche oder den Konzertsaal, schaffen neue Orte der Begegnung und begeben uns in einen Austausch.
Musik hat doch eigentlich immer für sich selbst gesprochen – warum geht es heute nicht mehr ohne Vermittlung?
Schmidt: Ich denke durchaus, dass es auch in der Vergangenheit Vermittlung gegeben hat – auch wenn der Begriff nicht verwendet wurde. Jede Musik kann bereits Vermittlung in sich tragen so wie Vermittlung auch Kunst sein kann, es handelt sich nicht um Gegensätze. Spätestens seit Bourdieu und anderen französischen Soziologen der 1970er Jahre wissen wir, dass Musik und überhaupt Kultur eine ausschließende Funktion haben können. Gesicherte Daten zeigen, dass die Teilhabe an verschiedenen Musikkulturen eben doch sehr stark vom jeweiligen Hintergrund abhängt und es nicht unbedingt nur eine freie Entscheidung ist. Hier sehen wir uns in der Verantwortung und gehen damit um. Dabei spielen auch Teilhabe, Diversität und Inklusion eine große Rolle.
Lange Zeit wurde der Begriff vor allem als Vermittlung von etwas benutzt. Also ich vermittle die Musik, das Werk an jemanden anderen. Das hat eine eher monodirektionale Wirkung und ist nur eine Lesart des Begriffs. Eine andere, die ich spannender finde, ist die Vermittlung zwischen Menschen und Musik. Da ist dann nicht mehr so klar, wer eigentlich die Hoheit hat. Wenn ich etwa mit Bachs Matthäuspassion in eine Geflüchtetenunterkunft gehe, dort auch die Themen des Werkes verhandle - Verzweiflung, Aufgabe, Hoffnung und Leid – und wir dort vielleicht auch anderer Musik begegnen, dann verändert das uns genauso wie die Menschen, die wir dort treffen, und auch die Musik verändert sich.
Das Publikum wirkt also auf die diejenigen zurück, die die Musik machen?
Schmidt: Wenn Laien musizieren oder eine Schülergruppe sich vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensrealitäten und Musikstile musikalisch ausdrückt – wer ist dann Experte? Wessen Musik zählt mehr? Anstatt von Zielgruppe sprechen wir heute deshalb lieber von Dialoggruppe, um diesen Austauschprozess mehr in den Blick zu rücken.
In Konzert- und Opernhäusern, wo Sie lange gearbeitet haben, hat sich die Musikvermittlung in den letzten Jahren etabliert. Hat die Kirche da Nachholbedarf?
Schmidt: Zunächst einmal hat die Kirchenmusik vieles, was es in Konzert- und Opernhäusern so nicht gibt. Sie ist ja stark partizipativ gedacht, die "singende Gemeinde" gehört quasi zu ihrer DNA. Die ist eben nicht das rezipierende Publikum, das möglichst schweigt und sich am Ende durch Applaus bemerkbar macht, sondern sie gestaltet mit. Sehr viele Laien sind aktiv, in Chören oder Posaunenchören. Kirchenmusik hat eine große gemeinschaftsstiftende Wirkung auch im ländlichen Raum.
"Besonders spannend finde ich die Arbeit mit Laien."
In vielen Kulturinstitutionen hat sich die Musikvermittlung vom Add-On zu einem Kerngeschäft entwickelt, sie ist eine eigenständige, künstlerische Praxis geworden, deren Wert und Legitimation nicht mehr angezweifelt werden. Das ist mein großer Wunsch auch für die Kirchenmusik. In vielen Werken geht es um existentielle, urmenschliche Themen. Ich glaube, da liegt noch ein großes Potenzial - Möglichkeiten für die Kirche, sich darüber in der Gesellschaft zu positionieren und mitzugestalten.
Gerade ist ja auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Eigenen – Kunstwerken, Konventionen, Orten, Personen, die Kultur repräsentieren - sehr stark im Gange. Die Mechanismen zu durchleuchten, die da wirken. Ich glaube, dass es da auch Handlungsbedarf in der Kirche gibt.
Sie meinen die Debatten um Rassismus und Dekolonialisierung?
Schmidt: Genau. Es geht aber auch allgemein um Machtstrukturen. Welche Musik erklingt überhaupt? Wer hat das Sagen? Wie arbeiten wir zusammen, wie sind die Produktionsprozesse, wen schließen wir aus? Mit Blick auf das Publikum, die Musik, aber auch interne Strukturen.
Sie haben ja in Ihren Tätigkeiten im Musiktheater schon vieles ausprobiert. Was lässt sich davon auf die Kirche übertragen?
Schmidt: Viele Formate sind übertragbar. Auf jeden Fall die generellen Denk- und Handlungsweisen. Was ich an Kirchenmusik besonders spannend finde, ist die Ensemblearbeit mit Laien. Da gibt es viel tolle Arbeit, die durch Musikvermittlung unterstützt werden kann.
"Musiker:innen vermittelndes Handeln nahezubringen, ist zukunftsweisend."
Was reizt Sie besonders an Ihrer neuen Aufgabe?
Schmidt: Die Pionierarbeit und die Arbeit mit den Studierenden. Natürlich spielt die Vermittlung in der Praxis schon eine wichtige Rolle. Ich denke zum Beispiel an "Vision Kirchenmusik" in der Landeskirche Hannovers, aber auch an viele Kantor:innen vor Ort. Im Akademischen hat sich das bisher erst wenig niedergeschlagen. Die Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg und die badische Landeskirche haben den Bedarf erkannt, Geld und Ressourcen in die Hand genommen und ein neues Studienfach mit einer halben Professur geschaffen. Sie sehen es als zukunftsweisend, Kirchenmusiker:innen Musik vermittelndes Handeln nahezubringen. Ich erlebe viel Offenheit von allen Seiten – Leitung, Lehrenden und Studierenden - hinsichtlich neuer Formen, auch in der Lehre, und auch die Bereitschaft, das eigene Tun zu hinterfragen.
Die Berufung nach Heidelberg passt ja auch zu Ihrer Entscheidung, nach Jahren in der Praxis stärker in Wissenschaft und Forschung zu gehen.
Schmidt: Genau. Ich war fast 15 Jahre in der Vermittlungspraxis tätig, vor allem in Kulturinstitutionen. Das Wissenschaftliche hat mich aber schon immer interessiert. Ich habe auch aus der Praxisperspektive schon publiziert und gelehrt. Seit 2021 habe ich den Schwerpunkt gewechselt und bin wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für musikpädagogische Forschung der Musikhochschule Hannover – nun noch mit einer halben Stelle. Durch die künstlerische Professur in Heidelberg kann ich beide Seiten zusammenbringen.
Welchen Bezug hatten Sie bisher zu Kirche und Kirchenmusik?
Schmidt: Neben dem Besuch eines Musikgymnasiums und vielen privaten Bezügen zu Kirche und Kirchenmusi habe ich eine D-Ausbildung gemacht, einen Chor geleitet und zeitweise auch Orgelunterricht gehabt. Das Metier ist mir also nicht fremd, aber ich bin keine studierte Kirchenmusikerin.
"Die Studierenden können experimentieren und wissenschaftlich reflektieren."
Was möchten Sie den Studierenden beibringen?
Schmidt: Heidelberg ist eine kleine Hochschule. Das heißt, man kann sehr passgenau mit den Studierenden arbeiten und schauen: Was treibt sie um, wie ist ihr Blick auf die Welt und die Musik? Das sind erstmal sehr schöne Ausgangsbedingungen. In Seminaren möchte ich die nötigen Grundlagen vermitteln, damit sie am Ende des Studiums nicht nur Vermittlungsansätze, Formate und Diskurse kennen, sondern sich auch selbst praktisch damit auseinandergesetzt haben. Am wichtigsten ist mir, dass die Studierenden die Kompetenzen einer musikvermittelnden Grundhaltung erwerben, die ihre gesamte Arbeit verändern kann.
Außerdem will ich mit den Studierenden Projekte in verschiedenen Handlungsfeldern der Musikvermittlung entwickeln, im geschützten Rahmen experimentieren und sie bei ihren eigenen Konzertprojekten begleiten. Was willst du mit deinem Konzertprogramm erzählen? Wie kannst Du es gestalten, damit du das, was du dem Publikum vermitteln möchtest, verstärken kannst? Wir werden aber immer wieder auch einen Schritt zurücktreten, und unser Handeln auf theoretischer Grundlage reflektieren.
Über das, was ich in der Lehre vorhabe hinaus ist es mir wichtig, die Arbeit der Hochschule auch nach außen sichtbar zu machen. Ich sehe mich in der Verantwortung, Menschen zu vernetzen, Inhalte zu gestalten, Material zur Verfügung zu stellen und Netzwerke mitzugestalten.
Welche konkreten Dinge sind jetzt in Ihrem ersten Semester in Planung?
Schmidt: Die Summer School der Hochschule behandelt in diesem Jahr das Thema 500 Jahre evangelisches Gesangbuch. Dafür planen wir ein partizipatives Projekt: Gemeinsam mit Chören und Posaunenchören aus Heidelberg und Umgebung, aber auch mit Menschen, die einfach gern singen, wollen wir niedrigschwellig ausgewählte Lieder in den öffentlichen Raum bringen – im Rahmen eines Flashmobs unter dem Titel "Singt mit Herz und Mund" am 30. Juni auf dem Heidelberger Marktplatz. Die Studierenden sind einerseits selbst musizierend beteiligt, aber eben auch in Konzeption und Reflexion. Ein gutes Beispiel für das, was ich in meiner Arbeit vorhabe.