Der Spitzname war sicherlich auch eine Anspielung auf seine Körperfülle, aber in erster Linie als Kompliment gemeint: Kaum jemand hat die deutsche Kriminalistik so sehr beeinflusst wie Ernst "Buddha" Gennat. Der Leiter der 1926 gegründeten Berliner Mordinspektion war bereits zu Lebzeiten eine Legende und hat als einer der ersten die Bedeutung der Spurensicherung erkannt. Während Geständnisse bis dahin oft mit Gewalt erzwungen worden waren, setzte der gleichermaßen kluge wie tiefenentspannte Kriminalrat auf Psychologie und "Profiling", als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Seine Zentrale Mordinspektion hatte 1931 eine Aufklärungsquote von fast 95 Prozent. Kein Wunder, dass Gennat bald als Vorbild für Spielfilmfiguren diente, darunter Kriminalkommissar Lohmann in den Fritz-Lang-Klassikern "M" (1931) und "Das Testament des Dr. Mabuse" (1933).
In "Babylon Berlin" wird Gennat würdevoll und unverwechselbar von Udo Samel verkörpert, und vermutlich hat es Nathalie Boegel und Michael Kloft bei der Fertigstellung ihrer zweiteiligen ZDF-Dokumentation des Öfteren in den Fingern gejuckt, auf die fast gleichnamige ARD-Serie oder zumindest die ihr zugrunde liegende Romanreihe von Volker Kutscher zu verweisen. Dass das Konzept von "Sündenbabel Berlin" nur bedingt aufgegangen ist, hat jedoch andere Gründe.
Die Produktion von Spiegel TV zeichnet ein Katerstimmungsbild der späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre: Die Party ist vorbei, die Weltwirtschaftskrise hat auch Deutschland in eine tiefe ökonomische Depression gestürzt, es kommt zu Massenarbeitslosigkeit. Weil das soziale Netz nicht mal ansatzweise mit dem heutigen zu vergleichen ist, sieht sich selbst die Mittelschicht plötzlich mit Armut konfrontiert, weshalb viele ihr Heil in der Kriminalität suchen; Berlin war mit seinen über vier Millionen Einwohnern auch die Hauptstadt des Verbrechens.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Boegel und Kloft haben sich einige Fälle herausgepickt, um Gennats Arbeitsweise zu beschreiben, und das ist in der Tat sehr interessant, selbst wenn zwischendurch etwas zu oft aus den Polizeiakten zitiert wird. Aber natürlich kann man sich nicht mit dieser Zeit befassen, ohne auf die politische Entwicklung einzugehen. Die Kombination ist allerdings nicht rundum überzeugend. Hier die Hinterhofmorde, dort der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der NSDAP, die marodierenden SA-Horden, die Angriffe auf jüdische Mitbürger und deren Geschäfte, die Morde an politischen Gegner, die Verstrickung der ehemals kaiserlichen Familie in den Nationalsozialismus: Wie soll das auch zusammenpassen, wenn man weiß, dass die Faschisten bald darauf Tod und Verderben über ganz Europa bringen und in ihren Konzentrationslagern viele Millionen Menschen ermorden werden?
Immerhin beschreiben Boegel und Kloft, wie sich die Polizei und Kampforganisation der NSDAP immer stärker gegenseitig durchdringen; wichtige Abteilungsleiter waren schon früh auch Parteimitglied. Eine Produktion für die ARD wäre aber wohl anders vorgegangen und hätte sich zum Beispiel stärker auf die Kriminalistik konzentriert, um die Fakten hinter der seriellen Fiktion zu dokumentieren. Tatsächlich wirkt auch "Sündenbabel Berlin" stellenweise wie eine "True Crime"-Doku, zumal die Fälle, darunter ein Anschlag auf den Schnellzug von Berlin nach Basel, als gleich mehrere Waggons den Bahndamm hinabstürzten, äußerst spektakulär sind.
Wer "Babylon Berlin" kennt, wird zudem einige inhaltliche Überschneidungen entdecken, etwa das Vergnügungslokal "Moka Efti", das als Treffpunkt der Unterwelt diente. Interessant ist zudem die handwerkliche Gestaltung. Die zeitgenössischen Filmaufnahmen und Fotografien sind naturgemäß schwarzweiß, aber in den Passagen über die Arbeit der Mordinspektion sind wichtige Details nachträglich knallrot koloriert worden.
Wie stets in solchen Dokumentationen spielen auch die Sachverständigen eine wichtige Rolle. Überaus prägnant und präsent ist Harold Selowski, pensionierter Hauptkommissar der Schutzpolizei, Mitinitiator der Polizeihistorischen Sammlung Berlin und Experte für die Berliner Polizei zwischen 1918 und 1933; der Mann ist dank schon allein dank seiner lebendigen Erzählweise ein echter Einschaltgrund. Trotzdem bleibt eine eklatante Leerstelle: Angesichts des wieder erstarkten Antisemitismus’, der Grenzüberschreitungen in den Wahlkämpfen sowie der allgemeinen Verunsicherung gerade auch der Mittelschicht sollte eine derartige Dokumentation den Vergleich zwischen damals und heute ziehen. ZDFinfo zeigt beide Teile hintereinander.