"Ich bin aus Köln vor sieben Jahren in ein Heidedorf im Landkreis Uelzen (Niedersachsen) gezogen, um meinen Traum vom Leben auf dem Land zu erfüllen. Doch schon nach kurzer Zeit, sickerte die Realität in meine Idylle ein: Menschen, die ein Hakenkreuz im Nacken trugen oder immer mehr Kinder in der KiTa eines Bekannten, die merkwürdige Ansichten verbreiteten", erzählt Isa von Bismarck-Osten bei unserem Treffen. Das habe ihr die Augen geöffnet und sie bewogen sich gegen das rechtsextreme "völkische" Gedankengut einzusetzen.
Auch für Martin Raabe, heutiger Sprecher der Gruppe "beherzt" und ehemaliger Seemannspastor, waren es solche Momente, die ihn besonders aufschrecken ließen. "Ein Mädchen im Teenageralter, das regelmäßig im Ort zum Musikunterricht ging, musste plötzlich weinen. Nach dem Grund gefragt, erklärte es, dass die Frau auf einem Foto, das sie gesehen habe, ihre Musiklehrerin sei. Das Bild zeigte Menschen, Nazis, die für die Freilassung der Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck öffentlich demonstrierten."
Geschockt von etlichen derartigen Vorfällen, aber nicht erstarrt, organisierten Isa von Bismarck-Osten und er einen ersten Vortrag. Die Referentin war Journalistin Andrea Röpke. Röpke ist eine der führenden deutschen Journalistinnen Deutschlands im Bereich Rechtsextremismus. Unter anderem verfasste sie regelmäßig Jahrbücher über rechte Gewalt in Deutschland. An diesem Abend kamen etwa 80 Personen zusammen. Der Startschuss für "beherzt" im Landkreis Uelzen war gefallen. Auch die Initiative "Kirche für Demokratie – gegen Rechtsextremismus" Niedersachsen arbeitet mit der Gruppe "beherzt" zusammen und unterstützt das Engagement der Menschen vor Ort.
Katja Eifler volontierte nach ihrer Studienzeit im Lokalradio im Rhein-Kreis Neuss. Anschließend arbeitete sie als Radioredakteurin. Später als Redaktionsleiterin eines Wirtschaftsmagazins am Niederrhein. Heute ist sie freischaffende Journalistin, Online-Texterin, Coach und Moderatorin. Seit April 2023 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Nicht aggressiv-offensiv, sondern besonnen, wollten die Engagierten, die sich selbst als gut bürgerlich bezeichnen, etwas gegen die Ausbreitung des "völkischen" Gedankenguts unternehmen. Ein Zeichen setzen, oder, wie schon bald nach dem kreativen Brainstorming mit Grafik-Designern aus den eigenen Reihen, eben das Kreuz ohne Haken als sichtbares Symbol. "Wir sind als einzelne Menschen alle eher zurückhaltend, wir wollten nicht provozieren", erläutert von Bismarck-Osten. Es sei darum gegangen, Haltung zu zeigen und dennoch den Dorffrieden zu wahren.
Es sei anders auf dem Land, weiß auch Martin Raabe, man begegne sich morgens beim Bäcker, auf der Straße oder abends in der Gaststätte. Es gebe die schützende Anonymität der Großstadt eben nicht. Das Kreuz aber, das bewusst Ähnlichkeit mit dem Kreuz anlässlich der Proteste in Gorleben habe, sagt: Hier hat "völkisches" und menschenverachtendes Gedankengut keinen Platz.
Aktuell zählt die Initiative mehr als 1.500 Kreuze, die an Hauswänden, Zäunen oder in Gärten stehen. Immer wieder wurden und werden die aufgestellten Kreuze beschmiert, beschädigt oder entwendet. Nur ein Beispiel von vielen will Martin Rabe erzählen. So zeigte sich eine "beherzte" Landwirtin, die ein Kreuz an die Mauer ihrer Scheune aufgehängt hatte, mehr als schockiert, als dieses plötzlich als umgestaltetes Hakenkreuz morgens an ihrer Wand hing. Die Täter:innen hatten nachts ihr Grundstück betreten und das Symbol verschandelt. Eine eindeutige Verletzung der Privatsphäre und eine bedrohliche Inszenierung der Macht. Aber auf die Mitglieder der Initiative war nach diesem Schock für die Landwirtin Verlass. Noch am Nachmittag kamen mehr als 40 Mitglieder mit Kaffee und Kuchen vorbei, um ihre Solidarität zu bekunden. Und doch noch ein Beispiel: Eine Gaststätte, die sich dazu entschied, ebenfalls ein Kreuz anzubringen, erlitt kurz darauf deutliche Einnahmeeinbußen. Bestimmte Menschen blieben aus Protest weg. Für einen Dorfwirt nicht einfach zu verkraften.
Die unauffälligen "netten" Nachbarn
Mancherorts wird das dörfliche Leben in der Lüneburger Heide still und leise von Menschen mit "völkischem" Gedankengut durchdrungen. Sei es das Kind, dass seinen Spielgefährten seinen "besten Freund" Adolf Hitler als Foto zeigt oder der beliebte Trainer des heimischen Sportvereins, der sich "völkisch" engagiert und das Training mit Parolen bestückt. Durch den Mut und das Engagement der Sportler:innen gelang es, ihm diesen Posten abzusprechen. Heute läuft ein Team aus seinem Verein in Trikots mit dem "beherzt"-Logo beim Training auf. Die Beispielliste von Martin Raabe dieser alltäglichen Durchsetzung ist lang, die seiner erhaltenen Hass-E-Mails oder geschickter Drohbriefe ebenfalls.
Auch Anrufe in der Nacht mit Drohungen, wie, "Wir kommen gleich vorbei und dann…" gehören zu seinem Leben heute dazu. Immer wieder setzen sich auch zu den regelmäßigen Treffen der Initiative "völkische Söhne", provokativ in die erste Reihe seiner Vorträge. Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft, Staatsschutzbegleitung oder Polizeipräsenz sind fast schon Alltag für Raabe und die Initiative. Immer wieder berichten ihm Menschen, die "beherzt" mitmachen von angsteinflößenden Situationen, wie beispielsweise einem bedrohlichen "persönlichen Heimgeleit" durch schwarz gekleidete Personen nach einem Fest auf dem Hof eines völkischen Nachbarn.
Die "Völkischen Siedler" werden mehr
Die "Völkischen Neuankömmlinge" sind in den vergangenen fünf Jahren mehr geworden. Sie kaufen bevorzugt alte Höfe in der Lüneburger Heide auf und präsentieren sich in den Dörfern als besonders nette und höfliche Nachbarn. "Gerne sind sie es, die sich bereit erklären, beispielsweise nach einem Fest im Dorf noch die Gläser zu spülen", berichtet Raabe. Nicht immer gelingt es da, hinter die hilfsbereite Fassade zu schauen.
Aber umgekehrt, wollen Raabe, von Bismarck-Osten und die anderen Gruppenmitglieder nun noch offener Haltung zeigen. Isa von Bismarck-Osten: "Es ist für uns jetzt an der Zeit, Gesicht zu zeigen für unsere Demokratie, die Vielfalt und für die Nächstenliebe". So kämpferisch wie das klingt, ist sie persönlich eigentlich aber nicht. Auch bei ihr herrsche der Wunsch vor, sagt sie, ohne Angst und unbehelligt, glücklich hier zu leben.
Kein direkter Angriff
Unterstützung statt Angriff, das spiegelt sich auch in vielen Aktionen der Initiative wider. So habe man beispielsweise Pädagogen eingeladen, die Eltern helfen, deren Kinder Freundschaften zu Kindern aus "völkischen Kreisen" haben. Sie können zeigen, wie es möglich ist, sich in solchen Fällen zu verhalten. Denn Verbote helfen Kindern nicht, aber Tipps wie: "Spielt zusammen, aber spielt bei uns" entfalten schützende Wirkungen. In ehrenamtlich besetzten Arbeitsgruppen bearbeitet "beherzt" noch viele weitere Themen aus den Bereichen Bildung, Öffentlichkeitsarbeit, plant Vorträge, spricht mit Behörden und Menschen, die ihre Immobilien verkaufen wollen. In einer 40–köpfigen Kerngruppe fließen die Themen zusammen und werden in konkrete Aktionen umgesetzt.
"beherzt" und ausgezeichnet
Der Julius-Rumpf-Preis 2024 der Martin-Niemöller-Stiftung, sei jetzt eine großartige Auszeichnung für die Arbeit der Gruppe, sagen beide Gesprächspartner. Verbunden ist er mit einem Preisgeld von 10.000 Euro, das die Initiative gut gebrauchen kann. Der Preis wird am 1. Juni offiziell um 17 Uhr in der Klosterkirche Ebstorf verliehen. Die Gruppenmitglieder wollen nach der öffentlichen Feier mit Wein, Bier oder Wasser noch etwas gemeinsam feiern und dann "beherzt" mit ihrem Tun weitermachen.
Doch warum eigentlich der Name "beherzt"? "Wir haben unser Herz in die Hand genommen und es hat uns Mut gegeben, die eigenen Ängste und Sorgen zu überwinden und für die Demokratie und die Vielfalt einzustehen", antwortet Isa von Bismarck-Osten. Für sie steht fest: Sie will mit ihrer Haltung auch ihren Traum vom Leben auf dem Land zum Erfolg führen. Ähnlich sieht es der ehemalige Seemannspastor Martin Raabe: "Früher, wenn ich nicht wusste, was mich auf einem Schiff, dass ich betrete werde, erwartet, habe ich, getreu eines Seemannspruchs, mein Herz zuerst über die Reling geworfen und bin dann hinterhergegangen." Mut und Kraft ziehe er jeden Tag daraus und aus dem Gedanken, all das für seine Kinder, Enkel und all die Menschen, die in seiner Heimat leben, zu tun.
Gedrängt würde niemand, sich ihrer Initiative anzuschließen, sagen beide abschließend. Sie würden lieber abwarten, bis sie von den Menschen angesprochen werden. Es solle jeder mit dem eigenen Herzen entscheiden, ob er dabei sein möchte. 600 Aktive zählt "beherzt" Stand heute - und das inzwischen bundesweit. Anfragen und Kontakte sind jederzeit über die Website möglich.
Julius-Rumpf-Preis
Der Julius-Rumpf-Preis erinnert an den Wiesbadener Marktkirchenpfarrer Julius Rumpf (1874-1948), der führendes Mitglied der Bekennenden Kirche während der NS-Zeit war. Gestiftet wurde er vom Ehepaar Ingrid und Günther Rumpf, letzterer ein Sohn des Namensgebers. Die Martin-Niemöller-Stiftung vergibt die Auszeichnung derzeit alle zwei Jahre. Ausgezeichnet werden Einzelne oder Gruppen, die für Toleranz, gewaltfreie Konfliktlösungen, Mitmenschlichkeit und Versöhnung eintreten.