epd: Frau Kuchenbauer, kürzlich war zu lesen, dass sich die Anträge auf Kriegsdienstverweigerung bei der Bundeswehr von 2022 auf 2023 verfünffacht hätten. Steigt auch bei Ihnen die Nachfrage?
Claudia Kuchenbauer: Die angebliche Verfünffachung geht darauf zurück, dass 2022 erstmals auch die Anträge sogenannter Ungedienter, also nicht Gemusterter ohne Bundeswehr-Personenkennziffer, aufgenommen wurden. Tatsächlich ist die Zahl der Soldaten und Soldatinnen, die verweigerten, seit mehr als zehn Jahren stabil, rund 200 sind es jährlich. Sie verweigern, weil sie merkten, dass ihre Vorstellungen bei der Verpflichtung mit dem tatsächlichen Dienst nicht übereinstimmen. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine denken aber auch viele Reservisten und Reservistinnen sowie junge Menschen, die ja seit 2011 nicht mehr gemustert werden, darüber nach, dass es zum Verteidigungsfall kommen könnte.
Und sie denken über eine Verweigerung des Dienstes an der Waffe nach. Diese Personengruppen wurden jetzt erst in die Statistik aufgenommen. Wir bei kokon hatten vor dem Ukraine-Krieg jedes Jahr eine bis fünf KDV-Beratungen. Übers letzte Jahr waren es zwölf Beratungen, in diesem Jahr aber bereits sechs. Aktuell habe ich wöchentlich einen Anruf. Vor 2011 lagen die Beratungszahlen bei jährlich zwischen 30 und 50. Dabei handelte es sich meist um junge Männer, die Zivildienst machen wollten.
Wer lässt sich heute vor allem von Ihnen beraten?
Kuchenbauer: Seit 2021 haben sich vor allem Reservisten, die nachträglich den Dienst an der Waffe verweigern möchten, beraten lassen, aber auch Ungediente. Manchmal auch deren Eltern, die sich Sorgen machen. Soldatenanfragen sind eher selten. Hier ist auch eine rechtsanwaltliche Begleitung notwendig. Für die Beratung zur Begründung des KDV-Antrags werde ich aber auch von Soldaten und Soldatinnen kontaktiert.
"Wer sich auf dieses Grundrecht bezieht, muss plausibel machen, dass es das Gewissen ist, das einem den Gebrauch einer Waffe gegen Menschen unmöglich macht."
Im Grundgesetz heißt es, niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das klingt so, als ob es kein Problem wäre, den Kriegsdienst zu verweigern. Deckt sich dies mit Ihren Erfahrungen?
Kuchenbauer: Bei der Verweigerung muss man die Gewissensnot, die man potenziell hätte, darstellen. Nun ist das Konzept des Gewissens durchaus anspruchsvoll. Da geht es nicht um eine Vorliebe oder Abneigung. Wer sich auf dieses Grundrecht bezieht, muss plausibel machen, dass es das Gewissen ist, das einem den Gebrauch einer Waffe gegen Menschen unmöglich macht.
In der Beratung höre ich allerdings auch, dass jemand einfach Angst hat, in den Krieg zu ziehen. Man möchte nicht sterben, man möchte nicht töten und nicht am Krieg beteiligt sein. Ich habe es auch mit Menschen zu tun, die beruflich stark in eine zivile Richtung gegangen sind. Vor Kurzem kontaktierte mich ein Heilerziehungspfleger. Dessen ganzer Lebensplanung merkt man an, dass dieser junge Mensch das Leben fördern will. Die Vorstellung, Leben vernichten zu müssen, passt hier überhaupt nicht rein.
"Die Prägung im Elternhaus, die Geschichte der Familie, existentielle Ereignisse und Erfahrungen, das alles kann ein Licht darauf werfen, wie das Gewissen geworden ist."
Wie geht es nach der Antragstellung weiter?
Kuchenbauer: Entschieden wird über den Antrag zuerst im Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Verantwortung. Im Fall einer Ablehnung kann man Widerspruch einlegen und die Begründung ergänzen. Sollte das wieder abgelehnt werden, muss man vor dem Verwaltungsgericht klagen. Über die Gewissensnot wird also in einem Verwaltungsakt entschieden.
Wie kann man sich Ihre Beratung konkret vorstellen?
Kuchenbauer: Ich informiere über die eben geschilderten Vorgänge. Für noch nicht erfasste Menschen ist vor allem interessant, zu erfahren, dass sie zuerst zu einer Musterung müssen, um überhaupt erfasst zu werden. Sie müssen sich also zunächst entscheiden, ob sie das wollen. Der Ausgang des Verfahrens bleibt ja völlig offen. Dann entwickeln wir im Gespräch, was Gewissensgründe im konkreten Leben sind. Die Prägung im Elternhaus, die Geschichte der Familie, existentielle Ereignisse und Erfahrungen, das alles kann ein Licht darauf werfen, wie das Gewissen geworden ist.
Wie denken Sie persönlich über eine Mobilmachung in den nächsten fünf Jahren? Halten Sie dies für realistisch?
Kuchenbauer: Ich weiß es nicht. Es sind viele vermeintliche Gewissheiten in den letzten Jahren zerbrochen. Wenn ich einen Grund anführen müsste, der mir Zuversicht gibt, dann ist das, dass ich persönlich darauf vertraue, dass die Verantwortlichen in Politik, in der NATO und auch alle zivilgesellschaftlichen Akteure kein Interesse an einer Eskalation haben. Mir hat gut gefallen, dass die Friedens- und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff erklärt hat, wie viele Verhandlungen aktuell im Hintergrund laufen. Solche diplomatischen Bemühungen brauchen vertrauliche Räume, da ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen, aber es wird viel angebahnt und gemeinsam guter Wille gebündelt.
Was geht Ihnen als Friedensarbeiterin durch den Kopf, wenn Sie hören, wie Boris Pistorius sagt, dass wir immer noch so tun würden, als ob wir noch in Friedenszeiten lebten?
Kuchenbauer: Ich denke, er meint damit, dass wir uns fast nicht vorstellen können, dass wir unser Land oder Europa gegen Angreifer verteidigen müssen. Die Weltkriege sind lange her, davon erzählt der Geschichtsunterricht fast wie über die Pharaonen. Wir haben uns an eine Welt gewöhnt, in der geredet wird, verhandelt, in der es Regeln gibt, an die man sich hält, und wenn nicht, gibt es Gerichte und Polizei. Diese demokratische Vorstellung ist uns in Mark und Bein übergegangen. Ein potenzieller Aggressor stellt dieses ganze Projekt infrage.