epd: Was ist der Grund dafür, dass sich aktuell Gewalt gegen Politiker häuft?
Andreas Zick: Es gibt mehrere Gründe, die ineinandergreifen. Es gibt eine Gewaltgelegenheit: die Europawahl und die Landtagswahl in östlichen Bundesländern sowie der Nahostkonflikt und andere politische Triggerthemen. Politikerinnen und Politiker zeigen sich mehr im öffentlichen Raum und sind nahbar und eben angreifbar. Da insgesamt die Gewaltbereitschaft angestiegen ist, ist auch das Risiko größer geworden für mögliche Opfer. Diese sind zumeist vorher in den sozialen Medien herabgewürdigt und zur Zielscheibe ernannt worden. Dass die Billigung politischer Gewalt angestiegen ist, haben wir schon vor einem Jahr festgestellt.
Wie kommt es zu dieser Art Radikalisierung?
Zick: Die Täter sind überzeugt davon, im Recht und im Kampf gegen die Feinde zu sein, die sie selbst geschaffen haben. In ihren Augen sind die Opfer eigentlich Täter. Zu einer Zuspitzung kommt es dadurch, dass das Vertrauen in die demokratischen Institutionen massiv eingebrochen ist. Bilder eines vermeintlichen Betruges und einer Unterdrückung des Volkes schaffen ein destruktives Misstrauen. Die Zerrbilder in sozialen Medien, die rechtsextremen und rechtspopulistischen Verschwörungserzählungen und die populistische Größenfantasie von Widerstand und Rebellion haben sich über Jahre aufgebaut. All das endet jetzt in Gewalt.
Gibt es weitere Ursachen, die eine solche Art von Gewalt begünstigen?
Zick: Ein Grund ist eine mangelnde Zivilcourage im Zuge solcher Angriffe. Wenn Menschen, auch Politikerinnen und Politiker, verächtlich gemacht werden, ergreift niemand das Wort. Herabwürdigende Darstellungen werden verharmlost oder werden sogar als lustig empfunden. Die Würde der Opfer wird oft schon vorher öffentlich beschädigt. Dazu kommt eine neue Gewaltkultur: Gewalt wird stärker als Erlebnis erfahren, insbesondere von Kleingruppen, die zuschlagen. Das zeigt sich, wenn die Gewalt dann den sozialen Medien landet.
"Manche Täter haben psychische Probleme, andere haben selbst Aggressions- und Gewalterfahrungen."
Was sind das für Täter, die jetzt zur Gewalt greifen?
Zick: Es sind Menschen, die Feindbilder haben und diese mit anderen teilen. Sie rechtfertigen die Taten mit stereotypen und entwürdigenden Bildern. Sie saugen Informationen über mögliche Opfer auf, weil sie sich einerseits ohnmächtig und im Verlauf der Radikalisierung überbordend stark fühlen. Manche Täter haben psychische Probleme, andere haben selbst Aggressions- und Gewalterfahrungen. Andere Täter sind ideologisch hochgradig motiviert, etwa wenn sie aus rechtsextremen Milieus stammen. Die Aufarbeitung der Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker ist aber noch nicht so weit, dass ich wissenschaftlich umfassend Auskunft geben kann. Gerade im Bereich der Gewalt aus populistischen und rechten Kreisen brauchen wir dringend mehr Analysen.
Lässt sich diese Gewalt verhindern?
Zick: Neben einer soliden Strafverfolgung sind Aufarbeitung, ein Täter-Opfer-Ausgleich und ein öffentlicher Lernprozess nötig. Viele Menschen kennen weder die Rechtslage noch die möglichen Konsequenzen. Sie können oft auch nicht einschätzen, wo Gewalt beginnt. Stereotype, Vorurteile und Herabwürdigungen sollten schon in ihrer Entstehung gebremst werden. Herabwürdigung von anderen ist nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt.
Politikerinnen und Politiker und viele andere, die angegriffen werden, brauchen eine genaue Analyse von Risiko- und Schutzfaktoren, um vorbeugend handeln zu können. Viele sind alleingelassen, haben keinen Zugang zu Beratung und Angeboten, ein solches Konzept zu entwickeln. Es braucht digitale Arbeit zusammen mit Influencern, die wissen, wie Menschen erreicht werden können. Es braucht eine Stärkung der Zivilcourage.
Ist die zunehmende Gewalt auch ein Ausdruck einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft?
Zick: Debatten darüber, ob die Gesellschaft gespalten ist oder ob es härtere Strafen geben soll, nützen den Opfern nichts. Sie führen auch nicht dazu, die Gewalt zu verstehen. Gewalt muss ins Hellfeld geholt werden, dann können Institutionen und Forschung mit den Fakten umgehen und Präventionspläne entwickeln. Die Gewalttaten müssen Motivation sein, die Gewaltspirale herunterzuschrauben und mehr Anstand in die Gesellschaft zu bringen. Das ist kein moralischer Appell, sondern heißt, die Würde von Menschen darf nicht angetastet werden und muss nach einem Angriff wiederhergestellt werden.