Teaser Meinungsbeitrag evanglisch.de
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Pastor Frank Muchlinsky mit einem Kommentar zum Thema was "ein" Zeitgeist, nicht "der" Zeitgeist!" im kirchliche Zsammenhang bedeutet.
Ein Beitrag zur Debatte
Schluss mit dem Zeitgeist-Vorwurf!
Wer in der Kirche Aussagen macht, die man als progressiv oder liberal bezeichnen kann, wird deswegen häufig kritisiert. Dabei wird oft der Vorwurf geäußert, die gemachten Aussagen würden sich lediglich am Zeitgeist anbiedern. Ich will deutlich machen, warum dieser Vorwurf haltlos ist. Zur Verdeutlichung beginne ich mit zehn Aussagen, die eine entsprechende Reaktion auslösen können.
  1. Gott liebt jede Art von Familie, in der liebevoll miteinander umgegangen wird.
  2. Man muss nicht an die Hölle glauben, um in den Himmel zu kommen.
  3. An Gott zu zweifeln, gehört zum Glauben dazu.
  4. Die Jünger von Jesus waren Juden, keine Christen.
  5. Jesus war nicht weiß.
  6. Gott kann sich auch in anderen Religionen offenbaren.
  7. Gott vergibt und will trotzdem, dass sexualisierte Gewalt bestraft wird.
  8. Yoga ist keine Sünde.
  9. Das Christentum ist immer politisch.
  10. Christ:innen dürfen gendern.

All das sind Aussagen, hinter denen ich stehe. In diesen Sätzen drücken sich meine Frömmigkeit und gleichzeitig mein Intellekt aus. Ich habe sie theologisch durchdacht und sie stehen meines Erachtens sowohl auf gutem biblischem Grund wie auf dem unserer Bekenntnisse.

Hinter allen zehn Aussagen steht außerdem ein Zeitgeist. Man beachte nun unbedingt den unbestimmten Artikel: "ein" Zeitgeist, nicht "der" Zeitgeist! "Der" Zeitgeist ist eine Erfindung, ein Popanz. Wer von "dem" Zeitgeist spricht, suggeriert damit, es gäbe einen einzigen. Das ist hilfreich in der Argumentation von Zeitgeistgegner:innen, denn so kann der Zeitgeist quasi als Gegenspieler zum Heiligen Geist aufgebaut werden. Das macht die Argumentation sehr einfach, denn Menschen, die es mit dem Christentum ernst meinen, müssen sich dann entscheiden, wem sie sich zuordnen. Und wer will sich schon gegen den Heiligen Geist entscheiden!

"Gegenwartsgeist" anstatt "Zeitgeist"

Es gibt den "einen" Zeitgeist nicht, wohl aber einen "Geist der jeweiligen Zeit". Es wäre darum angemessener, von einem Geist der Gegenwart zu sprechen, einem "Gegenwartsgeist". So wie sich die Zeiten ändern, das Wissen der Menschen, die Gesellschaften und die Gesetze, die wir uns geben, so wechselt auch der Geist, mit dem wir auf unsere Traditionen schauen. Das gilt auch für unsere Glaubensgrundlagen. Das kann man bedauern und beklagen, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass es geschieht, und vor allem: Es geht nicht ohne den Geist der Gegenwart. Es ging niemals ohne. Auch die Bibel ist nicht frei von Gegenwartsgeist. Einige der Lieblingsbibelstellen von Zeitgeistgegner:innen sind Aussagen, die nicht geschrieben worden wären, wenn ihre Autoren nicht im Sinne ihres damaligen Geistes geschrieben hätten. "Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist." (Epheser 5,2-23) Diese Sätze sind mit voller Absicht geschrieben worden im Gegenwartsgeist einer Gesellschaft, die eben genau so funktionierte: Patriarchal. Das Christentum war noch frisch und hätte gesellschaftlich keine Chance gehabt, wenn man nur mit dieser "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau"-Haltung angekommen wäre, die Paulus in einem frühen Brief formuliert (Galater 3,28).

Auch Zeitgeistgegner:innen haben Gegenwartsgeist

Der Geist der patriarchalen, hellenistischen Gesellschaft der Antike weht in Epheser 5. Der Geist des 19. Jahrhunderts weht in der Vorstellung, eine Familie bestehe grundsätzlich aus Vater, Mutter und deren Kindern. Jede Auslegung jeder Bibelstelle atmet Gegenwartsgeist, denn sie wird zu einer bestimmten Zeit gemacht. Wer also Frauen den Männern unterordnen möchte oder Regenbogenfamilien für unchristlich hält, hängt sich an den Gegenwartsgeist des 19. Jahrhunderts. Das gilt übrigens für viele Aussagen von Menschen, die gegen "den" Zeitgeist schimpfen.

Eigentlich ist die Erkenntnis, dass sich niemand der Bibel ohne Gegenwartsgeist nähern kann, nicht schlimm. Im Gegenteil, es ist ein Zeichen dafür, dass wir unserer Heiligen Schrift zutrauen, immer wieder Bedeutung für unsere Gegenwart zu haben. Diejenigen, die das schlimm finden, geben vor, sie würden zur Bibel selbst zurückwollen, aber das ist falsch. Sie wollen lediglich zu einer anderen Auslegung der Bibel zurück. In der Regel ist das eine Auslegung, die ihnen dient, weil sie ihre Privilegien stützt. Darum stammt diese Auslegung meist aus Zeiten, in denen andere gesellschaftliche Verhältnisse galten.

Befreiend und gleichzeitig verunsichernd

Sich klarzumachen, dass Bibelauslegung immer im Geist der Gegenwart geschieht, hat unterschiedliche Auswirkungen. Zunächst darf man die Bibeltexte lesen und dabei ihren Inhalt von den Auslegungen trennen, die bereits zu ihnen gemacht wurden. Manche dieser Auslegungen haben Ungerechtigkeit und Leid befördert. Sie abzulegen ist eine große Befreiung. Allerdings ist diese Erkenntnis anstrengend und kann verunsichern. Anstrengend ist sie, weil es niemals aufhört. Was heute gilt, kann morgen in Frage gestellt werden. Wer den eigenen Glauben als fest und unerschütterlich versteht, wird es als unangenehm empfinden, wenn jemand sich an den gewohnten Auslegungen zu schaffen macht, denn sie können neben dem biblischen Zeugnis wie ein weiteres Fundament empfunden werden. Darum ist die Einsicht, dass Bibelauslegung nur mit einem Gegenwartsgeist möglich ist, auch eine große Verunsicherung für viele Christenmenschen.

In diesem Sinn kann man durchaus Verständnis für diejenigen haben, die gegen "den" Zeitgeist wettern. Sie versuchen, ihren Glauben vor Anfechtungen zu schützen. Es ist wie mit all den anderen Veränderungen, die in unserer Zeit anstehen: Man weiß oder ahnt zumindest, dass es diese Veränderungen braucht, aber auf diese Weise mit der Zeit zu gehen bedeutet, sicheren Boden zu verlassen. Das verunsichert. Verunsicherung führt zu Ablehnung. Leider führt Ablehnung häufig zu Pauschalisierung und zur Aggression. Der Zeitgeist-Vorwurf geht häufig einher mit dem Verdacht, man wolle die Menschen verführen, habe selbst keinen rechten Glauben oder sei Schuld daran, dass die Menschen aus der Kirche austreten. Werden solche Vorwürfe geäußert, ist eine Auseinandersetzung kaum noch möglich. Darum sollte der Zeitgeist-Vorwurf aus der Debatte verschwinden.