Nachdem die Evangelischen Kirche Mitteldeutschland Martin Michaelis am 15. März seinen Pfarrbereich entzogen hat, wurde nun ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Grund dafür ist seine Kandidatur als Parteiloser innerhalb der AfD-Liste bei den Kommunalwahlen am 9. Juni 2024.
evangelisch.de: Herr Lehmann, in einem ZDF-Beitrag vom 26. März 2024 hieß es, dass die evangelische Kirche nach eigenen Angaben demnächst das Gespräch mit dem Pfarrer suchen wolle. Fand denn dieses Gespräch nach der Amtsenthebung statt?
Michael Lehmann: Das Gespräch wird noch stattfinden, jetzt waren erst mal eine Reihe von weiteren Schritten zu gehen. Ich finde es auch schwierig, jetzt alles auf ein Gespräch zu fokussieren, denn wir sind mit Pfarrer Michaelis in einem beständigen Gespräch. Es hat zu verschiedenen Zeiten Gespräche gegeben und ich habe natürlich gehört, dass er dieses spezielle Gespräch auch öffentlich bisher vermisst hat. Wenn wir den dienstrechtlichen Status betrachten, ergeben sich natürlich mehrere Möglichkeiten, die ja nicht nur Gespräche betreffen, sondern auch überhaupt die Handlungsoptionen, die wir als Kirche haben.
Pfarrer Michaelis war bis 2022 Vorsitzender unserer Pfarrvertretung, und in dieser Funktion hat er, das ist den Betriebsräten gleichgeordnet, einen Freistellungstatbestand. Das heißt, er ist ein Pfarrer gewesen, der von seinen Pfarrdiensten freigestellt war für die Arbeit der Pfarrvertretung unserer Landeskirche. Nun ist es so gewesen, dass 2022 eine neue Pfarrvertretung gewählt wurde und er nicht mehr zum Vorsitzenden der Pfarrvertretung gewählt wurde. In einem demokratischen Verfahren kann man in eine Funktion hineingewählt werden und es kann demnach auch sein, dass ein anderer in diese gleiche Position gewählt wird. Dass er hier pauschal der Kirche vorwirft, er wäre aus dieser Aufgabe herausgedrängt oder hinausgeworfen worden, ist schlichtweg falsch. Es war eine Legislatur, die er zu Ende gebracht hat. Danach, in der neuen Legislatur, hat die Pfarrerschaft dieser Landeskirche sich einen anderen Vorsitzenden gewählt. Er wurde demnach nicht diskriminiert.
"Allerdings hat die Kirche gegenüber ihren Pfarrern dann auch einen Anspruch, dass sie für dieses Geld etwas tun."
Wenn ein Pfarrer seinen Freistellungstatbestand verliert, bewirbt er sich auf eine andere Pfarrstelle. Wenn er diese antritt, wird er wieder mit allen Rechten eines Gemeindepfarrers ausgestattet. Das ist auch der normale Weg. Herr Michaelis hat sich aber auf keine andere Pfarrstelle beworben. Das heißt, von dem Moment an war er Pfarrer ohne Pfarrstelle, er erhält allerdings seine vollen Dienstbezüge. Die bekommt er also seit dem 15. März ununterbrochen, auch bis heute.
Die Kirche hat gegenüber ihren Pfarrerinnen und Pfarrern einen Alimentationsanspruch. Dem werden wir gerecht. Allerdings hat die Kirche gegenüber ihren Pfarrern dann auch einen Anspruch, dass sie für dieses Geld etwas tun. Und insofern ist es dann die Tatsache, wenn jemand das Geld bekommt, dann erwarten wir auch, dass er als Pfarrer arbeitet. Der normale Weg ist, er bewirbt sich auf eine Pfarrstelle und dann ist die Sache geordnet.
Es fanden also mehrere Gespräche mit ihm statt?
Lehmann: Seit 2021 hat es eine ganze Reihe von Gesprächen gegeben. Vor einem Jahr 2023 haben wir ihm die Möglichkeit gegeben, ein Kontaktsemester zu haben. Das sind drei Monate, mit dem Ziel einer beruflichen Orientierung. In diesen drei Monaten hatte er die Möglichkeit zu überlegen, wo ihn sein Weg als Pfarrer hinführt. Er konnte sich überlegen, auf welche Stelle er sich bewerben kann. Zu unserem Kummer hat er diese drei Monate auch genutzt, um bei diversen Demonstrationen als Redner aufzutreten, die also zum Teil von Rechtsextremen organisiert waren, zum Teil aber auch von Rechtsextremen mitgetragen worden sind. Das hat es uns natürlich schwer gemacht.
"Er hatte vorgeschlagen, er könnte eine wissenschaftliche Arbeit schreiben zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie."
Und als er wiederkam, hatte er keine realistische Idee, was aus ihm werden soll. Er hatte vorgeschlagen, er könnte eine wissenschaftliche Arbeit schreiben zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Da haben wir aber festgestellt, da fehlt ihm die wissenschaftliche Expertise und er hat auch die drei Monate nicht genutzt, um irgendwelche Kontakte aufzubauen. Also, wenn es um die Aufarbeitung der Corona-Pandemie geht, es wird ja auch gerade im staatlichen Bereich diskutiert, ist es ja völlig klar, das ist ein sozialwissenschaftliches Problem. Es ist ein historisches Problem und auch ein gesundheitliches Problem. Und möglicherweise kann die Theologie auch etwas dazu beitragen, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber mit der Lektüre der Schriften Luthers die Pandemie erklären zu wollen, das hilft nicht weiter. Wir haben es für nicht aussichtsreich gehalten.
Im Gespräch ist dann auch deutlich geworden, dass es kein entsprechendes Forschungssetting gibt und kein Exposé. Aber wir sind dennoch im Gespräch geblieben, da er ja ein anerkannter und beliebter Gemeindepfarrer war. Wir haben ihm gesagt: "Bitte suchen Sie sich eine Gemeinde."
Das war 2023. Und er hat sich keine andere Gemeinde gesucht und sich beworben?
Lehmann: Wir haben als Landeskirche, und zwar im Gespräch mit ihm, überlegt, wie wir jetzt eine angemessene Tätigkeit für ihn finden. Es war ja auch völlig klar, dass wir diese Tätigkeit nicht ohne die Zustimmung des Pfarrers anordnen werden. Wir müssen vorher aber auch die Gemeinden und auch den Kirchenkreis fragen, ob der Dienst dort möglich ist. Für die Besetzung von Pfarrstellen ist nämlich die Gemeinde zuständig und für die Zurverfügungstellung von Pfarrstellen ist der Kirchenkreis zuständig. Das heißt, es ist ohnehin alles, was wir tun, auf ein konsultatives Verfahren angelegt. Immer dann, wenn alle Beteiligten der gleichen Überzeugung sind, was aber in der Regel schnell passiert, dann gelingt eine Besetzung. Diese Besetzung hat er sich durch fehlende Bewerbungen versagt und dann ist es die Aufgabe der Landeskirche, ihm einen amtsangemessenen Auftrag zu erteilen, mit seiner Zustimmung und mit der Zustimmung der betroffenen Kirchenkreise. Und darüber haben wir mit ihm auch gesprochen.
"Allerdings war der Kreiskirchenrat von Anfang besorgt, er könnte diese Tätigkeit nutzen, um in der Gemeinde auch polarisierend tätig zu werden."
Und so hat Michaelis 2023 den Pfarrbereich in Gatersleben übernommen…
Lehmann: Auch dazu hat es ein Gespräch gegeben mit ihm, nachdem wir für ihn die Pfarrstelle in Gatersleben gefunden hatten, die der Kirchenkreis zur Verfügung gestellt hatte. Allerdings war der Kreiskirchenrat von Anfang besorgt, er könnte diese Tätigkeit nutzen, um in der Gemeinde auch polarisierend tätig zu werden.
Aber sein größter Vorwurf ist ja, dass ein Gespräch nach der Amtsenthebung am 15. März 2024 nie stattgefunden hat.
Lehmann: Er wirft ja der Kirche spöttisch vor, dass da zwei Personen vor seiner Tür standen. Aber das ist doch ein Gesprächsangebot, wenn sich Leute zu ihm auf den Weg machen. Aber zum Gespräch gehören ja auch immer mehrere Personen. Also die Gesprächsangebote müssen ja auch wahrgenommen werden.
"Zudem hat am Sonnabend vor Ostern, am Karsamstag, ein fast einstündiges Telefonat gegeben, zwischen ihm und einer Kirchen-leitenden Person."
Im Rahmen des Settings eines Disziplinarverfahrens wird das dann noch eine ganze Reihe von Gesprächen geben, weil ja ein unabhängiger Ermittlungsführer jetzt eingestellt worden ist, der jetzt einen Abwägungsprozess zu starten hat, um am Ende zu einem verlässlichen Ergebnis zu kommen. Deshalb geben wir ja auch dieses Verfahren in unabhängige Hände.
Zudem hat am Sonnabend vor Ostern, am Karsamstag, ein fast einstündiges Telefonat gegeben, zwischen ihm und einer Kirchen-leitenden Person. Ich finde es von ihm nicht redlich zu sagen, es hätte keine Gesprächsangebote gegeben. Es ist eher so, dass es von verschiedenen Seiten, von der Ebene des Kirchenkreises, von der Ebene des Personaldezernates und auch von Kirchen-leitender Seite ein permanentes Bedürfnis gegeben hat, mit ihm die Dinge zu besprechen.
Eine Frage zu Kirche und Politik: Dem Zeit-Redakteur Hannes Leitlein zufolge sollte sich die Kirche mit dem Thema AfD auseinandersetzen. Er zitiert auch Michael Haspel, der in Erfurt und in Jena auch Systematische Theologie lehrt. Letzterer schätzt, dass im ländlichen Bereich der mitteldeutschen Kirche 30 bis 50 Prozent der Gemeindemitglieder AfD wählen oder ihren Positionen zustimmen. Somit wäre es ratsam, dass sich die Kirche im Osten mit dem Thema auseinandersetzt, zumal Pfarrer auch von den Gemeinden gewählt werden und es vielleicht Gemeinden gibt, die Michaelis als Pfarrer gerne haben möchten?
Lehmann: Ich frage mich, wo er diese Zahlen herhat. Und er hat gesagt, es ist bloße Vermutung, es ist hochgerechnet.
"ich bin neugierig darauf zu erfahren, welche Grenzen es im Amtsverständnis gibt, die das politische Engagement von Pfarrerinnen und Pfarrern ermöglichen oder auch einschränken."
Wenn es zu einem Pfarrauftrag kommt, den die Kirche erteilt, dann ist es sinnvoll, dass die Gemeinde diesem Auftrag zustimmt, dass der Kirchenkreis diesem Auftrag zustimmt und dass die betroffene Person diesem Auftrag auch noch zustimmt. Denn sonst ist der Konflikt von vornherein angelegt. Und wir wollen natürlich ein konfliktfreies Arbeiten unserer Pfarrer haben. Es war in der Vergangenheit schwer, für Michaelis eine Gemeinde zu finden, wo er seinen Auftrag geben kann. Ich will nicht ausschließen, dass es ihm dennoch gelingen könnte.
Da ich Personaldezernent bin und kein Gemeindekirchenratsmitglied, beschäftigen mich die Fragen: "Welche Pflichten hat ein Pfarrer und wie nimmt er diese Pflichten wahr?" Wir haben daher Erwartungen, die wir an die Amtsführung von Pfarrer Martin Michaelis haben. Aber jetzt läuft erst mal das Disziplinarverfahren und ich bin neugierig darauf zu erfahren, welche Grenzen es im Amtsverständnis gibt, die das politische Engagement von Pfarrerinnen und Pfarrern ermöglichen oder auch einschränken. Dieser Fall ist, das haben Sie vielleicht auch mitbekommen, erstmalig in der evangelischen Kirche in Deutschland und es gibt da keine Vergleichsmaßstäbe.
Prinzipiell stimmen wir zu und wir fördern das auch, dass Pfarrerinnen und Pfarrer als gesellschaftlich relevante Personen auch selbst politisch aktiv sein können. Ich komme selbst aus der ehemaligen DDR und weiß, wie wichtig eine politische Partizipation ist. Uns ist ein politisches Engagement unserer Pfarrerinnen und Pfarrer gelegen. Aber, und das ist der Punkt, aber es darf der Verkündigung und der Glaubwürdigkeit der Verkündigung nicht im Wege stehen.
Sie debattieren in der aktuellen Landessynode auch über den Antrag, den Kirchengemeinden rechtliche Instrumente in die Hand zu geben, um die Kandidatur etwa von Mitgliedern der AfD für die Gemeindekirchenratswahlen 2025 zu verhindern. Die Kirche hat entschieden, dass diese Debatten nicht öffentlich sind?
Lehmann: Ja, und zwar weniger aufgrund der Sorgen der Gemeinden, sondern wegen der Sorge, dass einzelne Kirchenvertreter öffentlich angegriffen werden. Es kam schon zu verschiedenen Bedrohungsszenarien gegenüber Kirchen-leitenden Personen. Ich kann daher alle Synodalen verstehen, die sagen, ich möchte ein freies Wort, eine freie Debatte, haben, ohne hinterher das Gefühl zu haben, ich werde für das, was ich in der Synode sage, in der Öffentlichkeit dann gebrandmarkt, diskriminiert oder verfolgt.
Ich selbst habe nach Veröffentlichung der Pressemitteilung am Montag vor Ostern eine Unzahl an Anrufen und Mails gehabt, die - ich sage es mal vorsichtig – unerfreulich waren.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Online-Texterin und Marketing-Coach. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Sie entscheiden nun als Evangelische Kirche Mitteldeutschlands, wie sie in Zukunft mit AfD-nahen Menschen umgehen?
Lehmann: Ja, es geht uns hierbei um die Meinungsfreiheit. Und daraus ergibt sich aber zweierlei. Das eine ist: Die Kirche darf auch eine Meinung haben. Es ist einer Kirche, auch der evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, nicht verboten, eine Meinung zu haben. Und das darf auch eine andere Meinung sein, als eine bestimmte politische Partei in diesem Land hat. Und damit meine ich ausdrücklich auch die AfD.
"Die Kirche muss sich aber eben nicht am Programm politischer Parteien orientieren."
Dass diese Meinung der AfD nicht gefällt, das ist die eine Seite. Die Kirche muss sich aber eben nicht am Programm politischer Parteien orientieren. Das tut sie auch nicht, sondern sie hat sich an den eigenen Glaubensgrundsätzen zu orientieren. Und die sind Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Und wenn wir diesen Kompass beachten, dann ergeben sich ganz konkrete Handlungsoptionen für die evangelische Kirche in allen ihren Gliederungen, also sowohl für die Landessynode als auch für die Gemeindekirchenräte und alles, was sich dazwischen bewegt. Wenn wir diese Meinungsfreiheit erhalten wollen, müssen wir auch verhindern, dass Diskursräume eingeschränkt werden, also dass Menschen kommen, die jemanden verachten, verfolgen, ächten oder diskriminieren, nur weil er eine andere Meinung hat. Dort wird leider die AfD bedrohlich, weil sie Menschen bedroht, die anderer Meinung sind und das ruft wiederum uns als Kirche auf den Plan.
Wir müssen uns daher fragen, ob ein Pfarrer, der sich mit einer politischen Bewegung verbündet, die andere Menschen bedroht und Meinungsfreiheit einzuschränken versucht, seinem Auftrag gerecht wird. Das ist der Gegenstand der Prüfung, die wir im Rahmen des Disziplinarverfahrens gerade durchführen wollen.