Seit fast 55 Jahren gibt es das sogenannte Neugeborenenscreening. Um schwere, angeborene Erkrankungen zu erkennen, reicht dabei ein Tropfen Blut - und der kann lebensverändernd sein: "Ohne das Screening wäre ich schwer geistig behindert", sagt Manuela Stecher offen. Die 54-Jährige wurde als eines der ersten Babys 1969 auf die angeborene Stoffwechselerkrankung Phenylketonurie (PKU) getestet. Ihr großes Glück sei es gewesen, dass sie nur wenige Tage vor Einführung des Tests geboren wurde.
Wird die Erkrankung nicht behandelt, droht eine irreversible geistige und körperliche Schädigung. Erlebt hat dies Stecher bei ihrer acht Jahre älteren Schwester, die schwer behindert im Heim lebte. "Sie hatte nicht das Glück wie ich. Ihre Erkrankung wurde nicht gescreent und erst sehr spät entdeckt", erzählt Stecher, die im Vorstand der Deutschen Interessengemeinschaft Phenylketonurie und verwandte angeborene Stoffwechselstörungen (Fürth) ist. Heilbar ist ihre Erkrankung nicht, daher muss sie eine streng eiweißarme Diät einhalten und zusätzlich ein Medikament als Eiweißersatz einnehmen.
Heute werden Neugeborene auf 19 Erbkrankheiten untersucht, sagt Professor Georg F. Hoffmann von der Uniklinik Heidelberg. In Deutschland sind etwa vier Millionen Menschen von seltenen Erkrankungen betroffen. Mittlerweile ist auch die Sequenzierung des gesamten Erbguts schnell und kostengünstig möglich.
Im Projekt "New Lives" diskutieren Wissenschaftler über die Einführung eines genomischen Neugeborenenscreenings (gNBS) aus medizinischer, rechtlicher und ethischer Perspektive. Neben den Chancen, die die Früherkennung bietet, gibt es jedoch auch Risiken. Denn nicht jede Auffälligkeit bedeutet, dass es zu einer Erkrankung kommt.
Manche Krankheiten treten zudem erst spät im Leben auf, nicht alle können auch behandelt werden. Zudem hat jeder Mensch das Recht auf "Nichtwissen". Daher solle nur nach schweren und therapierbaren Erbkrankheiten gesucht werden, die im frühen Kindesalter auftreten und gut behandelbar sind, sagt Professor Christian Schaaf, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Humangenetik an der Uniklinik Heidelberg. Wie wichtig eine Früherkennung sein kann, zeigt auch das Beispiel der neunjährigen Antonia.
Das lebhafte Mädchen mit den blonden Locken hat die Stoffwechselerkrankung Cystinose, die mit 12 Monaten klinisch diagnostiziert wurde. Man sieht ihr nicht an, dass sie mehrmals täglich mehrere Medikamente zu festen Zeiten einnehmen muss. Bis zu zehn Medikamentengaben habe sie ihrer Tochter anfangs täglich, auch mitten in der Nacht, gespritzt, berichtet ihre Mutter: "Unser Alltag ist um die Medikamentengaben herum getaktet." Der beginnt schon um sechs Uhr morgens vor dem Frühstück. Für die seltene Erkrankung, die eine schwere Gedeihstörung bedeutet, gibt es zwar keine Heilung, aber eine medikamentöse Therapie.
Je früher diese beginnt, desto weniger wird die Niere geschädigt, erklärt die behandelnde Ärztin Katharina Hohenfellner (Rosenheim). Gemeinsam mit den Eltern plädiert sie dafür, beim Screening auch die Cystinose aufzunehmen. Auf eine Aufnahme hofft auch Verena Romero, die erste Vorsitzende des Selbsthilfevereins "Dup15q" mit Sitz im hessischen Hofheim ist. Ihre dreijährige Tochter hat die seltene und schwere neurologische Erkrankung "Dup15q", die unbehandelt bis zu 1.000 epileptische Anfälle pro Tag verursachen kann.
Eine schnelle Diagnose und eine effektive Behandlung verbesserten die Lebensqualität der Kinder und ihrer Familien, erklärt Romero. Daher plädiert auch sie für das genomische Neugeborenenscreening. Das erspare den Familien viel Leid und eine Ärzte-Odysee.