Mit einem kleinen Hubwagen hievt Speditionsfahrer Denis Koslowski die Glocken vorsichtig ins Innere des Transportlasters. Immerhin wiegen die Bronzeglocken zwischen 120 und 285 Kilogramm, die größte von ihnen hat einen Durchmesser von knapp einem Meter. Bereits am Tag zuvor hatten Monteure einer Glockengießerei das Geläut aus dem Turm der Kirche in Hannover-Vahrenwald geholt.
"Glocken sehen zwar robust aus, müssen aber für einen Transport wie rohe Eier behandelt werden", sagt Matthias Braun von der Firma "Glockenbörse". Auch er ist zu dem Verladetermin gekommen, denn die Vermittlung der hannoverschen Glocken ins ferne Estland lag bei seiner Firma. Seine Firma hat sich auf die Nachnutzung von Glocken aus aufgegebenen Kirchen spezialisiert. Die Firmengründer Matthias Braun und Sebastian Wamsiedler sind selbst Glockensachverständige und haben seit 2015 bisher rund 250 Instrumente aus ganz Deutschland weltweit vermittelt. In Hannover haben sie dabei geholfen, dass die Glocken aus der Corvinuskirche in die Klosterkirche Dobbertin in Mecklenburg-Vorpommern kamen. Auch für die Glocken der Lindener Uhlhornkirche fand sich über die Börse eine neue Heimat in einer katholischen Gemeinde bei Landsberg.
Nach der Entwidmung der Heilig-Geist-Kirche habe sich die Kirchengemeinde an ihre Firma gewandt, um mögliche Interessenten für eine Nachnutzung der Glocken zu finden, erzählt Wamsiedler. Sein Kollege Braun besichtigte die Glocken und stellte dann ein Angebot auf die Internetseite der Börse. Weil die erst 1976 gegossenen Glocken jung und gut erhalten seien, hätten sich mehrere Kirchengemeinden um das Geläut beworben, sagt Braun. Am besten passte es dann bei der evangelischen Kirchengemeinde in Paistu, denen auch die Schlichtheit der Glocken mit ihrer Inschrift "Glaube, Liebe, Hoffnung" gut gefiel. Bis sie in der kleinen Gemeinde zum ersten Mal läuten, wird es wohl Sommer werden, denn vor Ort muss noch ein Glockenstuhl gebaut werden.
In Paistu, eine gute Stunde westlich von Estlands zweitgrößter Stadt Tartu, hatte bisher die Glocke der St.-Marienkirche Tartu gehangen. Diese war im Zweiten Weltkrieg 1941 zerbombt und dann als Sporthalle genutzt worden. 2009 erhielt die evangelische Gemeinde die Kirche zurück und begann den Wiederaufbau. Nachdem in den vergangenen Monaten der Kirchturm rekonstruiert worden war, sollte auch die alte Glocke wieder nach Tartu zurückkehren. So benötigte die Gemeinde in Paistu ein neues Geläut, dazu erhält sie noch die Klöppel und den kleinen elektrischen Antriebsmotor.
"Für die Mitglieder der Heilig-Geist-Kirche bedeutet es zwar einen Abschiedsschmerz, aber es ist auch ein Trost, dass die Glocken wieder in einer Kirche läuten werden", sagt Pastor Marco Müller von der Lister Johannes- und Matthäuskirche. Nach der Kirchenentwidmung waren die Mitglieder der Heilig-Geist-Kirchengemeinde sowohl in die Vahrenwalder Kirche als auch in die Lister Johannes- und Matthäuskirche aufgenommen worden. Die Kirche und das Gemeindehaus sind an den Knabenchor Hannover verkauft worden, der die Gebäude zu Proben und für die Chorarbeit nutzen will.
Juristisch besteht die Heilig-Geist-Kirche noch und so wickelte sie den Verkauf ab, dessen Ertrag im vierstelligen Bereich liegt. Superintendentin Bärbel Wallrath-Peter beobachtet die Verladung der Glocken ebenfalls gespannt. "Es ist bewegend, dass die Glocken in einer lebendigen und engagierten Gemeinde weiter ihre Aufgabe erfüllen werden", sagt sie. Aus Paistu gebe es eine herzliche Einladung, zur Inbetriebnahme der Glocken zu kommen. Mit einer hannoverschen Delegation dort hinzureisen, kann sie sich gut vorstellen.
Doch erst einmal müssen die Glocken sicher und heil in Paistu eintreffen. "Sie werden unterwegs noch ein paar Mal umgeladen", sagt Braun, "und so bin ich froh, wenn ich den Anruf bekomme, dass die Glocken vor Ort sind und alles gutgegangen ist".