Es ist das älteste und wohl wertvollste Exemplar der Sammlung - und ein ganz schön schwerer Brocken dazu. Fast andächtig blättert Archivarin Gesine Parzich in dem Gesangbuch von Ambrosius Lobwasser (1515-1585), das 1604 im mittelhessischen Lich gedruckt wurde. Der sächsische Schriftsteller übersetzte die für die reformierte Kirche in Frankreich vertonten biblischen Psalmen Davids ins Deutsche. "Nur zwei oder drei Exemplare sind noch erhalten", erzählt die Archivarin.
Lobwassers in verwittertes Kalbsleder gebundenes Buch, das lutherische und reformierte Kirchenlieder vereint, ist nicht nur wegen seines Alters ein Unikum in der Gesangbuchsammlung des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche der Pfalz in Speyer. Mit seinem übergroßen Format, fast DIN A3, ist das Werk aus dem Besitz der protestantischen Kirchengemeinde Lambrecht anders als gängige Gesangbücher auch ziemlich unhandlich. "Es gehörte möglicherweise einem Vorsänger, einem Kantor", sagt Parzich.
Seit dem Jahr 2000 sammelt das Speyerer Kirchenarchiv evangelische Gesangbücher ab dem 17. bis zum 20. Jahrhundert. Rund 1.800 Exemplare aus Deutschland, den europäischen Nachbarländern und auch aus den USA lagern dort in Kartons, einzeln sicher verpackt in säurefreiem Seidenpapier. Die meisten datieren aus dem 19. Jahrhundert, als Gesangbücher massenhaft produziert wurden, sie wurden gespendet von Kirchengemeinden oder Privatpersonen. "Wir bekommen viel, können aber aus Platzgründen nur einen Teil nehmen", sagt Archivarin Parzich.
Vor 500 Jahren entstanden die ersten evangelischen Gesangbücher auf Initiative des Reformators Martin Luther (1483-1546). Mit ihnen legten die Mächtigen ihrer Zeit den für ihren Herrschaftsbereich geltenden Kanon an Kirchenliedern fest, erläutert die Archivarin. "Sie dienten auch der 'Disziplinierung von oben'." Vor allem aber seien die Liedersammlungen für die Menschen in allen Lebenslagen eine Quelle der religiösen Stärkung sowie der Freude und des Trostes gewesen.
Die meisten Kirchgänger erhielten ihr erstes Gesangbuch zur Konfirmation geschenkt - als Zeichen, dass sie nun ein vollwertiges Mitglied der christlichen Gemeinschaft sind. Oft waren die Bücher im 19. und 20. Jahrhundert in schwarzes Leder oder Samt gebunden und mit Goldprägung geschmückt: "Der Herr ist Dein Hirte", "Vertrau auf Gott", "Habe Gott vor Augen und im Herzen".
Einst waren Gesangbücher für Protestantinnen und Protestanten "ein Teil des Lebens, der Lebensbegleitung", sagt Archivarin Parzich. Das eigene Gesangbuch wurde besonders in Ehren gehalten, handschriftlich wurden dort häufig Ereignisse aus der Familiengeschichte vermerkt. Zwischen 7.000 und 8.000 evangelische Gesangbuch-Ausgaben gab es dem Kieler Theologieprofessor Johannes Schilling zufolge in den vergangenen 500 Jahren.
Auch war das Gesangbuch in seiner individuellen Gestaltung ein Prestigeobjekt. Man trug es, wie ein Exemplar im Handtaschenlook mit Trageband aus den 1950er Jahren zeigt, sprichwörtlich durch sein Leben - stolz nach dem Motto: "Ich gehe in die Kirche, mit meinem Gesangbuch!" Auch sind Gesangbücher ein Spiegel der politischen Verhältnisse ihrer Zeit: Das Gesangbuch "Großer Gott wir loben dich" (1941) der "Deutschen Christen" war im Geiste der Nationalsozialisten "bereinigt von jüdischen Elementen".
Heute fristen in einer zunehmend kirchenfernen Gesellschaft viele Gesangbücher ihr Dasein im Schrank oder im Keller. Das 500. Jubiläum biete die Chance, die Schönheit der Lieder neu zu entdecken, hofft Parzich. Chorprojekte und Konzerte, wie sie die pfälzische Kirchenmusik plant, könnten erreichen, "dass Menschen daraus singen".