Heute gibt es Falafel. Ungeduldig zerren die Jungs die Weißbrote mit den braunen Kichererbsenbällchen aus einer riesigen Plastiktüte. Erzieherin Rita Dababneh füllt aus einem großen Blechkessel süßen schwarzen Tee in die Gläser. Dann sitzen alle auf ihren Stühlen. Teller und Besteck gibt es nicht, dafür aber zufriedenes Kauen.
###mehr-artikel###
Rakan und seine beiden Freunde haben sich an den Nachbartisch gesetzt. Verschämt halten sie Dosen mit Pepsi-Cola vor sich. Vielleicht sieht die Erzieherin sie ja nicht. Aber Rita hat ihre Augen überall und kassiert die Dosen gleich - Pepsi am Abend, das geht nicht. Die Jungs nehmen es sportlich. Dann trinken sie die Cola eben morgen. Samstagabend kommen in der Theodor-Schneller-Schule in Amman die Internatsschüler aus dem Wochenende zurück. Im islamischen Jordanien gelten Freitag und Samstag als Wochenende. Bei den Jüngeren gab es einige herzzerreißende Szenen, als sich die Eltern verabschiedeten.
Aber Rakan ist ja schon zwölf, auch wenn er aussieht wie höchstens acht. Weinen würde er bestimmt nicht. Ein schmaler Junge mit schwarzen Haaren und wachen Augen. Sein Vater ist Palästinenser, die Mutter Jordanierin, beide sind Christen. Rakan gilt als Härtefall, weil seine Eltern am Existenzminimum leben. Die Mutter arbeitet als Wäscherin, der Vater ist krank und kann nur gelegentlich Getränke austragen. Weil Rakans Vater Palästinenser ist, lebt die Familie mit ihren drei Kindern in den Betonsilos des Flüchtlingslagers neben der Schule. Dort sind die Mieten wenigstens etwas günstiger als auf dem freien Wohnungsmarkt, wo die Preise explodieren.
Die einzige Chance auf kostenlose Ausbildung
"Das Leben ist sehr teuer", sagt Rakans Mutter Samar Suheir Issa Gammo, eine Frau um die 30 in Jeans und T-Shirt mit tiefen Furchen im Gesicht. "Pampers und Milch für das Baby, Kleidung für die Kinder, manchmal weiß ich nicht, wie ich das alles bezahlen soll." Staatliche Unterstützung für sozial Schwache gibt es nicht, nur eine kostenlose medizinische Versorgung für Kinder bis sieben Jahre. Bei Schneller finden benachteiligte Kinder wie Rakan Zuflucht und manchmal sogar eine neues Zuhause. Denn Schneller ist nicht nur eine Schule. Es ist eine Institution und die einzige Chance auf eine kostenlose Berufsausbildung in ganz Amman.
1860 gründete der pietistische Lehrer Johann Ludwig Schneller von der schwäbischen Alb in Jerusalem das Syrische Waisenhaus, um Kindern aus benachteiligten Familien eine Ausbildung zu ermöglichen. 1948 enteignete Israel die Schule in Jerusalem, und die Enkel Schnellers fingen in Amman und Beirut wieder von vorne an. In Amman schenkten ihnen Beduinen und der damalige König Abdallah I. ein Stück Land, das damals weit außerhalb der Stadt lag und noch keinen großen Wert besaß. Den Rest kaufte man aus der Entschädigungssumme des israelischen Staates dazu.
Am Rande der Hauptstadt
Heute liegt die Schule in einem 650.000 Quadratmeter großen Areal am östlichen Rand der staubtrockenen Hauptstadt mit ihren Sandsteinhäusern, die sich immer weiter in die Wüste hineinfressen. Mit seinen in ordentlichen Reihen angelegten Olivenbäumen, mit Sinnesgarten, Streichelzoo und Hochseilgarten ist das Gelände auch eine Naturoase fernab von Smog und dem täglichen Verkehrsinfarkt der Millionenstadt. Weit weg auch von den ultramodernen Einkaufspassagen, in denen die wohlhabenden Jordanier am globalen Konsum teilnehmen.
Ein Blick auf Amman. Foto: privat
"Kinder, die vom Camp kommen, haben es sehr schwer", weiß Erzieherin Rita Dababneh. "Für sie ist es eine große Chance, auf die Schneller-Schule zu gehen." Jedes Jahr gibt es um die 80 Bewerbungen, viel mehr als freie Plätze, aber Härtefälle wie Rakan werden sofort genommen. Als der Junge in der dritten Klasse von der Staatsschule zu Schneller kam, konnte er kaum lesen und schreiben. Das Niveau auf den staatlichen Schulen hängt von der Lage der Schule ab, in den ärmeren Stadtvierteln ist das Niveau sehr niedrig. Seine Nachmittage verbrachte Rakan auf der Straße.
Dafür hat er jetzt keine Zeit mehr, denn der Lehrplan bei Schneller ist anspruchsvoll. 270 Schüler besuchen die Einrichtung in diesem Schuljahr vom Kindergarten bis zur zehnten Klasse, mehr als hundert von ihnen leben im Internat. Die große Mehrheit sind Muslime. Wie im ganzen Land sind die rund 70 christlichen Kinder auch auf der evangelischen Schule, getragen vom anglikanischen Bischof von Amman, in der Minderheit. 92 Prozent der Jordanier sind sunnitische Muslime.
Sie ziehen sich zurück und weinen
Erstaunlich schnell begreifen die meisten Kinder, dass Schneller ihre einzige Chance auf eine bessere Zukunft bedeutet. Doch zerrüttete Familienverhältnisse gehen an ihnen nicht spurlos vorüber. Rita und ihre Kolleginnen merken den Kindern nach dem Wochenende oft an, wenn etwas nicht stimmt. "Wenn sie sich verstecken oder sehr schreckhaft sind, dann wissen wir, sie wurden entweder zu Hause geschlagen oder mussten zusehen, wie ein anderes Familienmitglied Prügel bekam", sagt Rita. Andere ziehen sich zurück oder weinen, weil jemand in der Familie krank oder depressiv geworden ist. Der Umgang mit den Ziegen und Hasen im Streichelzoo oder das unmittelbare Erleben von Natur im Sinnesgarten, vor allem aber das Miteinander in der Schulgemeinschaft helfen ihnen, schwierige Lebensumstände zu bewältigen.
Ab der ersten Klasse lernen sie Englisch und Deutsch als Fremdsprachen. Seit 2002 nimmt die Schule auch Mädchen auf. Durch individuelle Förderung schaffen fast alle Kinder den Abschluss nach der 10. Klasse. Danach können die Absolventen eine Ausbildung zum Schlosser, Mechaniker oder Schreiner machen. Die Ausbildung hat einen guten Ruf in Amman, und alle bekommen einen Job - das bedeutet viel in einem Land mit rund 30 Prozent Arbeitslosen. Manche machen danach auf einer staatlichen Schule Abitur, wenn die Noten gut sind, dürfen sie danach auf Staatskosten studieren.
In Führungspositionen angekommen
Inzwischen haben es Schneller-Absolventen in wichtige Führungspositionen des Landes bis hoch in die Regierungsetage geschafft. Aber die Kinder lernen nicht nur Lesen, Schreiben und Mathe. Sie lernen, wie man mit Bildung und eigener Anstrengung der Armut entkommt.
Die Schüler können nach dem Abschluss eine Ausbildung zum Beispiel zum Schreiner machen. Foto: privat
Sie üben Teamgeist und Sozialverhalten. In einer Region voller Spannungen und Konflikte probieren sie zumindest, religiöse Unterschiede auszuhalten. Die Kinder schmücken gemeinsam Weihnachtsbäume und suchen Ostereier. Im Ramadan fasten die Christen manchmal mit und feiern mit den Muslimen das Fastenbrechen nach Sonnenuntergang. Gebete werden allgemein gehalten, damit Christen und Muslime sie gemeinsam sprechen können.
So gelingt den Kindern oftmals, was ihren Eltern schon schwerer fällt. Denn gegenseitige Vorurteile sind durchaus verbreitet. Christen fühlen sich gerne moralisch und intellektuell überlegen und machen schon mal Witze über Muslime, auch wenn diese anwesend sind. Muslime in den ärmeren Stadtvierteln wiederum akzeptieren die freiere Lebensweise der Christen nicht. Sie bleiben lieber unter sich, was die Jobsuche für die Christen erschwert. Muslimische Geschäftsleute ziehen bei Bewerbungen manchmal ihre eigenen Leute vor. Mögen religiöse Differenzen unter Intellektuellen kaum eine Rolle spielen, unter den Benachteiligten sind sie doch auch Ausdruck der enormen gesellschaftlichen Spannungen in einem Land, das jungen Menschen kaum Zukunftsperspektiven bietet.
Schuldirektor sitzt im Parlament
Es ist eine große Leistung der Schule, dass sie es schafft, diese Spannungen draußen zu lassen. "Schneller-Absolventen sind ein wichtiger sozialer Faktor für die Gesellschaft", ist Direktor Ghazi Musharbash überzeugt. Der Direktor verkörpert selber das Ideal der Schule. Als Halbwaise geboren, zog seine Mutter ihn und den Bruder alleine auf. Musharbash schaffte das Abitur, studierte Chemie und baute sein eigenes Geschäft auf. Sich durchbeißen, Persönlichkeit zeigen und dann, wenn man es geschafft hat, etwas vom persönlichen Erfolg an die Schule zurück geben, ist seine Devise. Heute ist Musharbash nicht nur Schulleiter, sondern auch einer von zehn christlichen Abgeordneten im jordanischen Parlament.
Für Rakan liegt eine derartige Karriere völlig außerhalb seiner Vorstellungskraft. Nach dem Essen tobt er noch ein wenig mit seinen Freunden auf dem Spielplatz der Schule. Sein größter Wunsch ist es, Soldat zu werden. Die Armee bietet Ansehen und gute Sozialleistungen. Sicherheit und ein regelmäßiges Einkommen, das ist für ihn das höchste. Mehr kommt in seinen kühnsten Träumen noch nicht vor.