Die prägenden Rollenbilder, wie Männer zu sein haben, sind nur schwer abzuschütteln: Stark müssen sie sein, bloß nicht weinen, sie entscheiden einsam. In der evangelischen Männerarbeit blickt man kritisch auf diese Positionen. Dort sucht man Geschlechtergerechtigkeit und Männlichkeitsbilder aus kirchlicher Sicht. Im Interview mit evangelisch.de sagt Pastor Martin Treichel als Vorsitzender der Männerarbeit in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), warum Männer im Patriarchat nur verlieren können und was seine Hoffnung ist.
evangelisch.de: Herr Treichel, warum braucht es Männerarbeit in einem Patriarchat? Geht es den Männern nicht gut?
Martin Treichel: Keine Frage, dass wir immer noch in vielen Bereichen eine von Männern dominierte Gesellschaft sind. Das heißt nun aber gerade nicht, dass es keine Männerarbeit bräuchte. Im Gegenteil. Denn zum einen sind keineswegs alle Männer privilegiert. Denken Sie an die vielen, die beispielsweise in den sogenannten bullshit-jobs tätig sind, wo sie schlecht bezahlt werden und oft miserable Arbeitsbedingungen vorfinden.
Zum zweiten gibt es gesellschaftliche Bereiche, in denen Männer benachteiligt sind. Nach wie vor gibt es zum Beispiel keine Freistellung für Väter nach der Geburt eines Kindes. Und zum dritten braucht es Männerarbeit, um mit Männern daran zu arbeiten, dass sie keineswegs vom Patriarchat nur profitieren. Ihre gesellschaftliche Vorrangstellung und die dafür geforderten Verhaltensweisen bezahlen Männer mit verkürzter Lebenserwartung, oft schlechter Gesundheit und verkümmerten sozialen Beziehungen.
Wovon sollten sich Männer emanzipieren?
Treichel: Männer sollten sich emanzipieren von dem, was viele immer noch gelernt haben, was Mann-Sein sei: Kontrolle, Rationalität, Alleinsein, Rivalitäten, Körperferne, - durch Dominanzverhalten. Männer müssen sich emanzipieren von der Vorstellung, um sie drehe sich die Welt. Am Ende profitieren sie selbst davon am meisten – durch einen Zuwachs an Lebens- und Beziehungsqualität, durch eine größere Bandbreite emotionalen Erlebens, durch eine stabilere mentale und somatische Gesundheit.
Inwiefern schaden alte tradierten Rollenbilder den Männern, wie äußert sich das?
Zunächst schaden tradierte Rollenbilder nicht nur Männern, sondern der ganzen Gesellschaft. "Typisch männliches" Rollenverhalten hat eine Vielzahl an negativen Folgewirkungen und übrigens auch enorme volkswirtschaftliche Folgekosten. Das hat Kollege Boris von Heesen in seinem Buch "Was Männer kosten" eindrucksvoll herausgearbeitete. Männer nehmen sich viel Lebensfreude und Lebenszufriedenheit, wenn sie in tradierten Rollenbildern verbleiben. Sie verpassen all die Chancen, die sich ihnen eröffnen, wenn sie einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen haben, wenn sie intensiver in (Männer-)Freundschaften und soziale Beziehungen intensivieren, wenn sie erkennen, dass es mehr im Leben gibt als berufliche Anerkennung.
Was bieten Sie an, damit die Vater und Männer zu ihrem Potenzial finden - jenseits von Retter- und Beschützerinstinkten?
Die evangelische Männerarbeit bietet in vielfältiger Weise Räume und Möglichkeiten an, in denen Männer ausprobieren können, wie sie in dieser Zeit ihr Leben gestalten wollen. Es sind exemplarische Erprobungsräume, die sich auf Vater-Kind-Seminaren, bei Pilgerwanderungen oder bei Klosterwochenenden eröffnen. Besonders wertvolle Erfahrungen haben wir bei Seminaren gemacht, in denen sich Männer mit ihrer Endlichkeit beschäftigen. Wir bauen Särge, besuchen Friedhöfe oder Hospize. Niemand hat es für möglich gehalten, dass sich Männer finden, die sich mitten im Leben mit ihrem Sterben beschäftigen wollen – und nun führen wir Jahr für Jahr solche Seminare durch, in denen Männer sich mit großem Ernst, aber auch voller Humor damit auseinandersetzen, dass sie sterbliche Wesen sind.
Mit welchem Ergebnis?
Hoffentlich mit dem Ergebnis, dass Männer aus Verengungen und Zementierungen herausfinden. Und dass sie sich öffnen, um Neuland zu betreten. Dabei kann aber nicht davon abgesehen werden, dass es nicht nur individuelle Prozesse braucht, sondern auch Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Bereich. "Frauen werden nicht als Frauen geboren, sondern zu Frauen gemacht", lautet der berühmte Satz von Simone de Beauvoir. Das ist bei Männern allerdings nicht anders. Deshalb darf Männerarbeit ausbeuterische Strukturen nicht unterstützen, sondern muss in allen Bereichen Vielfalt, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit einfordern.
Muss sich Männerarbeit in der Kirche auch gegen Traditionalisten behaupten? Ihre Gegenargumente zu autoritären Rollenmodellen?
Emanzipatorische und gleichstellungsorientierte Männerpolitik ist vielfältigen Auseinandersetzungen ausgesetzt. "Echte Männer sind rechts", sagte jüngst der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl. Und auch in kirchlichen Kreisen sind zuweilen sehr traditionelle Geschlechterbilder noch en vogue. Was wir dem entgegensetzen? Die Überzeugung, dass Männer liebevoll vom Thron gestoßen werden müssen. Geschlechterreflektierte Männerarbeit bringt Männer in Verbindung – mit sich, mit Anderen, und mit ihren Sehnsüchten nach einem anderen Mannsein und nach gerechteren Geschlechterverhältnissen.
Welches Männerbild ermöglichte sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche aus Sicht der heutigen Männerarbeit?
Als evangelische Organisation, die sich besonders männlichen Perspektiven verpflichtet weiß, schauen wir insbesondere darauf, wo Jungen und Männer nicht geschützt sind. Die ForuM-Studie legt dar, dass unter den ihr zugänglichen bekannten Fällen nahezu zwei Drittel der Betroffenen von sexualisierter Gewalt männlich sind, in Heimkontexten spricht sie von über 80 % der Betroffenen. Dieser Befund deutet darauf hin, dass männliche Kinder und Jugendliche als weniger vulnerabel gelten und in Bezug auf sie noch weniger Schutzmaßnahmen greifen. Zugleich fällt auf, dass männliche Betroffene die ertragene Gewalt noch viel später ansprechen. Dies könnte an spezifischen Bewältigungsstrategien von Männern sowie bestimmten befürchteten Stigmatisierungen liegen.
Uns scheint dringend angeraten, gendersensible Perspektiven zu entwickeln und zu etablieren, die bei der Analyse dieser Gewalttaten und ihrer strukturellen Hintergründe sowie für die Aufarbeitung und für die Bewältigung der Gewaltfolgen hilfreich sind. Prävention und Beratung müssen so ausgerichtet sein, dass in ihnen die jeweiligen Bedarfe von Mädchen und Frauen, Jungen und Männern und Menschen jeglichen Geschlechts bewusst sind.
Ihre Hoffnung - wo wird die Kirche und die Gesellschaft in 50 Jahren stehen?
Es ist in diesen Zeiten nicht ganz leicht, voller Hoffnung zu sein für diese Kirche in dieser Gesellschaft. Aber Hoffnung machen mir junge Väter, die mit Hingabe und Leidenschaft ihr Vater-Sein gestalten. Hoffnung machen mir die Opas gegen rechts. Hoffnung machen mir alle Männer, die sich verantwortungsvoll sorgen: um Freundschaften, um gute soziale Beziehungen, um ein liebevolles Verhältnis zur Schöpfung, um gelingende menschliche Beziehungen. "Caring Masculinities" nennen wir das in der Männerarbeit – fürsorgliche Männlichkeiten. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich für solches Sorgen immer mehr Männer begeistern und dass sie dafür in der kirchlichen Männerarbeit Inspiration und Solidarität finden.