Zum Jahresfest des Jerusalemsvereins in Berlin, der evangelische Gemeinden und Schulen in Palästina fördert, sind auch Gäste aus Nahost gekommen: Friedensaktivistinnen aus Israel und Palästina und der Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land, Ibrahim Azar mit Familie. Seine Tochter Sally wurde Januar 2023 als erste Pfarrerin in Palästina in der Jerusalemer Erlöserkirche ordiniert.
An diesem letzten Sonntag vor der Passionszeit hält die 27-Jährige die Predigt beim Festgottesdienst in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt. Sie predigt über 1. Korinther 13 und die Kraft der Liebe. Auch im Epheserbrief ist die Rede von Liebe, sagt die palästinensische Pfarrerin auf der Kanzel, der die Anspannung deutlich anzumerken ist: "Dort werden wir aufgefordert: "Ertragt einander in Liebe!". Wenn es nur so einfach wäre. Leichter gesagt als getan. "Ertragt einander in Liebe" ist nicht nur der Predigttext, sondern auch das Thema des Jahresfests des Jerusalemsvereins und das diesjährige Motto des Weltgebetstags."
Sally Azar leitet das palästinensische Komitee des Weltgebetstag. Seit 2020 hatte sie mit Christinnen verschiedener Konfessionen die Liturgie erarbeitet. Alles war bereits übersetzt – dann kam der 7. Oktober. Der Terroranschlag der Hamas hat nicht nur den Frieden in noch weitere Ferne gerückt. Plötzlich stand auch ihre Gottesdienstordnung erneut auf dem Prüfstand. Das deutsche Komitee wollte Änderungen – dabei hatten sie doch schon so oft miteinander gesprochen, erzählt die junge Pfarrerin am Rande des Festes. Sie dachten, das alles gut sei, denn an der Situation der palästinensischen Frauen hätte sich ja nichts verändert: "In dem Sinne ist es so, als ob die uns sagen, nee, es gibt was Falsches in der Liturgie." Per Zoom hätten sie sich erneut mit den deutschen Frauen zusammengeschaltet und deutlich gemacht, dass sie eine Überarbeitung der Liturgie nicht unterstützen würden.
Dass ihre Liturgie vom deutschen Weltgebetstagskomitee in der aktualisierten Version kontextualisiert wurde, das kann Sally Azar vor dem Hintergrund der zunehmend polarisierten Diskussion in Deutschland um den Nahostkonflikt durchaus verstehen, nicht aber, warum in den Erfahrungsberichten von drei Frauen in der Liturgie noch etwas geändert werden sollte: " Niemand hat so richtig verstanden, dass wir damit Probleme kriegen könnten - mit einer Bearbeitung unserer eigenen Texten im palästinensischen Raum."
"Das ist ein Eingriff in unser Leben"
Ein Eingreifen in die ursprünglichen Sätze – das sei letztendlich auch ein Eingriff in ihr Leben, sagt die 27-Jährige. Der Alltag in den palästinensischen Gebieten ist von der israelischen Besatzung geprägt, von mangelnder Bewegungsfreiheit, von Demütigungen und Willkür an den Checkpoints, von Übergriffen israelischer Soldaten. Von all dem sei in der vom deutschen Weltgebetstagskomitee aktualisierten Version der Liturgie kaum noch etwas zu ahnen. Deshalb ginge es eben nicht nur um Kleinigkeiten, sagt Sally Azar: "Es wurde ja uns versprochen, dass nichts in den Geschichten verändert wird, aber trotzdem wurden in den Geschichten Wörter weggelassen und auch Israel als Täter entfernt. Aber das ist so, wie wir halt leben, das ist, was wir sehen." Es hätte doch genügt, den Erfahrungsberichten der drei Frauen Erklärungen voranzustellen. Warum mussten auch noch ihre Texte selbst verändert werden, kritisiert die Leiterin des palästinensischen Komitees.
Simon Kuntze, Nahost-Referent beim Berliner Missionswerk, kann den Unmut der palästinensischen Frauen in diesem Punkt gut verstehen. Woran sie sich stören, ließe sich am Beispiel der Geschichte von Lina belegen. Sie ist die Nichte der Reporterin Shireen Abu Akleh. 2022 wurde die bekannte Journalistin vom israelischen Militär erschossen. Im ursprünglichen Text sagt Lina über ihre Tante, sie sei "die Stimme der Wahrheit" gewesen. In der überarbeiteten Fassung ist sie nur noch die Stimme, die palästinensische Erfahrungen hörbar macht, sagt Simon Kuntze: "Also wird deutlich gemacht, es gibt nicht die Stimme der Wahrheit. Es wird abgeschwächt." Es gibt noch eine zweite wesentlich Änderung im Erfahrungsbericht der Nichte, sagt der Nahost-Referent: "Bei der Beerdigung von Shirin wurden die Sargträger gestört von israelischen Soldaten. Das wird dort auch benannt. In der geänderten Version ist das nicht mehr benannt, wer eigentlich hier das israelische Militär ist, sondern das wird passivisch formuliert."
Mit seiner Überarbeitung der Liturgie der palästinensischen Frauen steht das deutsche Weltgebetstagskomitee im deutschsprachigen Raum alleine da, weiß Simon Kuntze. Weder in Österreich, noch in der Schweiz wurden die Lebensgeschichten der drei Frauen verändert. In Deutschland ist manchen Gemeinden die Diskussion zu heikel geworden, sie wollen nur noch eine Art Friedensgebet feiern, sagt er. Aber da die ursprüngliche Liturgie zwar nicht mehr gedruckt, wohl aber bereits verschickt wurde, geht Simon Kuntze davon aus, dass auch in Deutschland viele Gemeinden den Weltgebetstag mit der alten Version feiern.
Davon ist auch Pfarrerin Sally Azar überzeugt: "Es gibt viele Menschen in Deutschland, die die originale Liturgie benutzen. Da sehen wir, wie viele auch mit uns stehen. Das gibt uns Halt, da wissen wir, es gibt viele Menschen uns unterstützen. Vorher haben wir das nicht gesehen. Dass es überhaupt Solidarität gibt, das war vorher nicht präsent."
Und auch das gibt Sally Azar Zuversicht, auch wenn es zur Zeit wenig Anlass für Hoffnung gibt: Am Abend des 1. März werden Christ:innen in aller Welt die Stimmen der Palästinenserinnen hören und für Frieden und Gerechtigkeit im Heiligen Land beten.