Nach der Scheidung entfachte seine Mutter einen Rosenkrieg gegen ihren Ex-Ehemann, und der Kontakt zwischen Andreas Kraft (Name geändert) und seinem Vater brach ab. Jahre später verließ ihn selbst seine Ehefrau "über Nacht" - und seine beiden Kinder beendeten den Kontakt zu ihm, erzählt er. "Ich bin Täter und Opfer", sagt Kraft. Vor zwei Jahren gründete er in Mainz eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern und Großeltern. Dort treffen sich Menschen, die schwer unter den Kontaktabbrüchen zu Kindern und Enkelkindern leiden - oft ein Leben lang.
Und auch im Sterben: Solche tiefen Familienkonflikte schwebten "wie dunkle Wolken" über Sterbenden, sagt Katharina Hoffmann. Sie koordiniert den ambulanten Hospizdienst im Oberhessischen Diakoniezentrum Laubach. Häufig fragten die ehrenamtlichen Helfer:innen sie um Rat, sagt Hoffmann. Am Lebensende gehe es oft um unbereinigte Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern. Ihre Erfahrung: "Viele wollen sich mit ihren Kindern aussöhnen, bevor sie die Welt verlassen, und liegen deshalb lange im Sterben."
Hoffmann berichtet von Missbrauch und Alkoholismus innerhalb der Familien.
Sie spricht von Kindern, die von ihren Eltern nicht gesehen wurden, von Müttern, die den Kindern vorhielten, ungewollt zu sein, von großer Kälte und Ablehnung. Es gebe Lieblosigkeit wie ein Zuviel an Aufmerksamkeit, manchmal könnten lapidar dahingesagte Sätze verletzen und ein Leben zerstören. Das führt zu tiefen Gräben oder als extreme Folge zu einem völligen Kontaktabbruch.
"Auf beiden Seiten liegen meist große Verletzungen vor", sagt die Autorin Dorothee Döring, die ein Buch über "Späte Versöhnung" geschrieben hat. Döring gibt auch Seminare zum Thema, sie hört dort: Die Eltern seien nicht kritikfähig, gefühlsarm.
Viele Menschen, deren Leben sich jetzt dem Ende zuneigt, gehören den von Krieg und Nachkriegszeit geprägten Jahrgängen um 1940 an. Die Autorin Anne-Ev Ustorf beschreibt in ihrem Buch "Wir Kinder der Kriegskinder", wie groß die seelischen Folgen dieser Kriegskindheit waren: Laut psychologischer Studien ist demnach ein Drittel der im Zweiten Weltkrieg geborenen Deutschen traumatisiert. Der Krieg hinterließ Millionen Tote, Witwen und Halbwaisen, es gab Flucht, Armut, Hunger - und Mütter, die sich vor allem um das reine Überleben der Familie kümmern mussten.
"Mussten sich verschließen, damit sie den Schmerz nicht spüren"
"Es ist so furchtbar traurig, weil die, die jetzt sterben, Kriegskinder sind. Sie sind so hochgradig belastet und mussten sich so sehr verschließen, damit sie den Schmerz nicht spüren", sagt die Therapeutin, Heilpraktikerin und Autorin Claudia Haarmann, die gerade an einem Buch über verlassene Eltern schreibt.
Die Autorinnen Haarmann und Döring betonen, dass Kontaktabbrüche ein "riesiges" gesellschaftliches Thema seien. In fast in jedem ihrer Seminare oder Lesungen würden sie darauf angesprochen, auch wenn es eigentlich um andere Themen gehe. Beide raten den alten Eltern, auf jeden Fall die Versöhnung zu suchen. Meist brauche es Hilfe von außen. "Redet über euer Schicksal und wie euer Verhältnis zu den eigenen Eltern war", schlägt Haarmann vor. Sie könnten das mit dem Partner, einem Freund, in einer Selbsthilfegruppe oder mit einem Therapeuten tun.
In der Selbsthilfegruppe von Andreas Kraft versuchen die Teilnehmenden, ein glückliches Leben ohne Kinder zu üben. Die Gruppenabende beginnen und enden mit einem "Blitzlicht": Jeder erzählt zwei Minuten lang, wie es ihm gerade geht und was er vom Abend mitgenommen hat. Es geht um Themen wie Patientenverfügung und Lebensende, aber auch um die Einsicht: Es ist jetzt eben so.
Hoffmann, Döring und Haarmann raten aber nicht nur den Eltern, sondern auch den Kindern, rechtzeitig eine Aussöhnung mit dem alten Vater, der alten Mutter zu suchen. Sie plädieren für Milde den Eltern gegenüber. Letztlich gehe es darum, ihnen zu vergeben und anzuerkennen, was diese trotz der schwierigen Umstände geleistet hätten. Das helfe, "trotz der Narben auf der Seele neu anzufangen", schreibt Döring in ihrem Buch. Sie erklärt, eine "mentale Versöhnung" könne selbst dann noch gelingen, wenn die Eltern schon tot seien: Man könne ihnen einen Brief schreiben, ihn verbrennen und die Asche ins Grab legen.