Die Glocken läuten, die Sonne scheint, vor der Kirche im Blütenschmuck des Mai versammelt sich die Goldhochzeitsgesellschaft zum Gratulieren. Annerose* ist auch da. Sie ist 77 Jahre alt, eine alte Freundin des Paares, gehört quasi zur Familie. Sie ist Patin des ältesten Sohnes und war zu DDR-Zeiten eine hilfreiche Päckchenschickerin und West-Besucherin in dem kleinen Dorf. Sie wird von vielen Gästen herzlich begrüßt. "Kennst du mich noch?" Diese Frage ist normal, wenn man sich lange nicht gesehen hat. Bei ihr hat die Frage noch eine andere Dimension. Annerose ist dement. Sie schafft es schon lange nicht mehr, Briefe zu schreiben oder selbst zum Telefonhörer zu greifen, um alte Kontakte zu pflegen. Obwohl die Freunde in ihrem Bewusstsein lebendig sind, ihre Bilder einen Ehrenplatz in ihrer Wohnung haben.
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Als die Einladung zur goldenen Hochzeit kam, hatte Anneroses Schwester, die sich trotz ihrer eigenen Altersgebrechen um sie kümmert, eine Idee: Ob die Lieblingsnichte Stephanie sie vielleicht auf dieser Reise begleiten könnte? Würde sich Annerose das zutrauen oder abwehren aus Angst vor Überforderung? Stephanie spricht mit ihr immer wieder am Telefon darüber und hört Zustimmung. Sie berät selbst mit der alten Freundin die Zeiten. Gemeinsam werden sie an der Feier teilnehmen, für ein paar Verlängerungstage wird die Tante allein bei ihren alten Freunden sein, damit sich die weite Fahrt auch lohnt, bis Stephanie sie an der nächsten Bahnstation wieder abholt und zurückbringt. Routine im Alltag sei wichtig, sagten die Demenzratgeber, aber auch Höhepunkte. Das kann so ein Höhepunkt werden, von dem Annerose zehren kann.
Zum ersten Mal sagt sie: "Ich kann nicht mehr alles"
Anneroses Geschwister, die nah beieinander wohnen, haben es in den letzten Jahren geschafft, ihr die größten Hürden aus dem Weg zu räumen. Die Wohnung ist vom lang aufgetürmten Chaos befreit, eine Putzhilfe ist da, eine Pflegerin der Diakoniestation kommt zum wöchentlichen Duschen. Die Schwestern haben auch die Garderobe aufgefrischt und verwalten die Finanzen. Annerose wird vom Neurologen behandelt und ist jetzt in die Pflegestufe 1 eingestuft, das bedeutet 100 Euro zusätzlich für Demenzbetreuung. Seit neustem geht sie einmal wöchentlich in die Tagespflege, weil sie sich allein kaum mehr beschäftigen kann. Das war ein langer Weg.
Stephanie erinnert sich: "Wir merkten, wie sie nicht mehr klar kam, aber wenn man ihr helfen wollte, wehrte sie ab. Sie hatte tausend Ausreden, warum sie nicht aufräumte, und beschuldigte andere, auf ihr Geld aus zu sein." Das ist nicht ungewöhnlich. Der Deutsche Ethikrat formulierte kürzlich in einer viel beachteten Studie: "Die Konfrontation mit dem Krankheitsbild der Demenz erinnert den Menschen an eine Dimension, die in seinem Streben nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmung oft in Vergessenheit geraten ist: die Dimension der Abhängigkeit." Und riet: "Das Erkennen und die Annahme dieses Angewiesenseins auf die Solidarität und Hilfe anderer Menschen durch den Demenzbetroffenen selbst sowie durch die Pflegenden und Angehörigen stellt die Grundlage für einen vorurteilsfreien Kontakt mit dem Betroffenen dar."
Bei Annerose ist das inzwischen gelungen. Beim Empfang vor der Dorfkirche hört Stephanie zum ersten Mal, wie Tante Annerose zum ersten Mal selbst sagt: "Ich kann nicht mehr alles", und auf ihren Kopf deutet: "Ich werde betreut von meinen Schwestern." Stephanie weiß, wie schwer dieser Weg war. Über Pflegebedürftigkeit hatten sie nie vor der Demenz nie gesprochen. Heute kann Annerose fast darüber schwerzen: "Ja, ich kann noch gut laufen, die Füße sind das beste."
Noch immer freundlich zu den Kunden - auch wenn es Freunde sind
Mit diesen Füßen und mit ihrer ungebrochenen Hilfsbereitschaft hatte sie vorhin einen Parkinsonkranken aus der Gemeinde zum Festgottesdienst geschoben. Nach dem Weg zum Bad musste sie fragen, was sie anziehen könnte, und Stephanie ihr zeigen, dass sie nicht die eine Strumpfhose über die andere ziehen sollte. Aber Hilfe anzubieten oder in der Festgesellschaft Small-Talk zu treiben, das gelingt Annerose hervorragend. Stephanie amüsiert sich: "Wie sie eine Frau, die sie begrüßt hat, fragt: 'Sind Sie immer noch so viel …?' - unterwegs, das Wort fällt ihr wegen ihrer Wortfindungsstörung schon nicht mehr ein, aber die andere reagiert sofort und erzählt von ihren Reisen. Oder einer anderen sagt: 'Sie sehen gut aus' – und die zieht sie ins Vertrauen mit ihrer Krankheitsgeschichte."
Als Stephanie ihre Tante vor einigen Monaten auf diese Kontaktfähigkeit angesprochen hatte, antwortete Annerose zu ihrem Erstaunen ganz nüchtern: Sie habe im elterlichen Schuhgeschäft gelernt, freundlich zu den Kunden zu sein. Wie lange ihr dieser Schatz erhalten bleibt? Laut der Studie des Ethikrat ist die Perspektive gut: "Gerade die gedächtnisbezogenen und kognitiven Veränderungen führen zu einer starken Ausprägung der Kompetenz, Situationen intuitiv wahrzunehmen, und zu einer Sensibilisierung für zwischenmenschliche Beziehungen, für die Gefühle des Gegenübers und für die Zwischentöne."
Zum Torte essen mus man kein Messer halten können
Anneroses Bruder, ein junger Ruheständler, der sich energisch um Finanzen und Pflegebürokratie kümmert, hatte Stephanie am Telefon geklagt: "Es wird immer schlimmer mit ihr. Sie schläft bis mittags. Du gibst ihr eine Zahnbürste in die Hand, sie weiß nicht, was sie damit tun soll." Stephanie hatte einen Moment Angst gekriegt. Die Schwester hatte vorsorglich den Gastgebern der goldenen Hochzeit genaue Anweisungen geschickt, wie man mit Annerose umgehen muss. "Nein, so schwer ist das nicht, da wird übertrieben", hört Stephanie, als sie nach dem Eindruck fragt. "Dass sie sich noch meinen Unfall gemerkt hatte!" wundert sich ein Freund aus alten Zeiten. Die Hochzeits-Jubilarin, die Annerose schon ewig kennt, resümiert am Ende: "Man konnte sich immer besser mit ihr unterhalten. Sicher, dann sucht sie immer mal was, was offen da liegt, oder man muss sie beim Essen ermuntern, dass sie nicht nur trockenes Brot isst."
Stephanie lacht. Dass man Butter aufstreicht und wie herum man das Messer hält – das Wissen geht Annerose verloren. Aber beim Torte essen braucht sie das auch nicht. Und weil sie es hier so freundlich akzeptiert – zu Hause reagiert sie oft unwirsch – können Stephanie und andere ihr leicht helfen. Bei der Feier ist sie bis spät nachts fröhlich dabei. Stephanie hat Mut und die Einsicht gewonnen: "Wenn sie ihre Stärke ausspielen kann, geht alles leichter. Dann kann ich ihr über die Schwächen hinweghelfen. Und wir haben zusammen eine schöne Zeit."
* Die Namen von Annerose und Stephanie wurden geändert, sind aber der Redaktion bekannt. Diese Geschichte wurde erstmals am 15. Mai 2012 auf evangelisch.de veröffentlicht.