Mehr Trubel habe es in seiner Gemeinde lange nicht gegeben, berichtet Friedhelm Harms. "Als sich herumgesprochen hat, dass Sahra Wagenknecht bei unserem Neujahrsempfang sprechen wird, stand das Telefon erst einmal nicht still", sagt der Pastor der Johannes-der-Täufer-Gemeinde in Wettbergen am südlichen Stadtrand von Hannover. Im vergangenen September, als er die einstige Linken-Fraktionsführerin im Bundestag angefragt habe, sei noch nicht absehbar gewesen, dass es zu einem Zerwürfnis der Linken und zur Gründung einer neuen Partei, dem "Bündnis Sahra Wagenknecht", kommen würde. "Dadurch, dass all diese Entwicklungen gerade jetzt stattfinden, hat Wagenknecht wieder einmal enorme Aufmerksamkeit - und damit unbeabsichtigt auch unser Empfang", sagt Harms.
Dass die umstrittene Politikerin am Donnerstag (18. Januar) in der Wettberger Kirche eine Rede halten will, weckt allerdings nicht nur Interesse, sondern auch Kritik. Die Dienstvorgesetzte von Pastor Harms, Antje Marklein, empfindet Wagenknechts Auftritt als wenig passend. Einige ihrer inhaltlichen Positionen widersprächen dem christlichen Menschenbild, das für die Kirche grundlegend sei, gibt die Superintendentin des Kirchenkreises Ronneberg zu Bedenken: "Ich sehe nicht, wie es mit der geplanten Veranstaltung möglich sein wird, eine stärkende Auseinandersetzung mit den aktuellen Herausforderungen zu befördern, vor denen wir als Kirche und Gesellschaft stehen."
Harms argumentiert, dass gerade die Kirche "Räume für faire und offene Debatten" öffnen müsse. "In Zeiten, in denen die Diskurse vor allem durch die sozialen Medien immer hitziger und einseitiger werden, müssen doch gerade wir uns darum bemühen, dass unterschiedliche Meinungen in einen sachlichen Austausch miteinander kommen", meint der Theologe. Freilich habe seine Offenheit dort Grenzen, wo sie auf antidemokratische oder menschenverachtende Haltungen treffe. "Aber die kann ich bei Frau Wagenknecht nun wirklich nicht erkennen."
Auch der Pressesprecher der Kirchenleitung in Hannover, Benjamin Simon-Hinkelmann, hält den Auftritt Wagenknechts in Wettbergen für vertretbar. "Als Landeskirche würden wir tätig werden, wenn eine Person zur Mitgestaltung einer Veranstaltung oder eines Gottesdienstes eingeladen wird, die einer Organisation oder Partei angehört, die nicht der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes entspricht", sagt er. "Das ist hier nicht der Fall." Allein die Tatsache, dass eine Person Positionen vertrete, die die Landeskirche nicht teile, sei kein Grund, in die Entscheidungshoheit einer Kirchengemeinde einzugreifen.
Sahra Wagenknecht ist nach eigener Aussage in der DDR ohne Religion aufgewachsen. Wegen ihrer Positionen zur DDR-Vergangenheit und zum Sozialismus war sie auch aus kirchlichen Kreisen in der Vergangenheit immer wieder kritisiert worden. In Interviews hatte sich Wagenknecht allerdings auch positiv zur sozialen Arbeit der Kirchen geäußert. Worüber sie in der Johannes-der-Täufer-Gemeinde sprechen wird, weiß Pastor Harms noch nicht. "Mich würden ihre Perspektiven auf eine friedliche Lösung im Ukraine-Krieg interessieren, aber auch die Frage, welche Werte wir aus ihrer Sicht in dieser Zeit als gesellschaftlichen Kitt brauchen".
Er selbst sehe dem Auftritt Wagenknechts "mit offener Neugier" entgegen, sagt Pastor Harms. Wegen des großen Interesses beabsichtige die Gemeinde, den Empfang aus der etwa 150 Sitzplätze fassenden Kirche in das Gemeindehaus zu übertragen. Einerseits freue er sich über die große Resonanz, andererseits hoffe er, dass die Veranstaltung kein "lautes Event" werde. "Mir geht es ausschließlich um die Auseinandersetzung mit den Positionen von Frau Wagenknecht", unterstreicht er.