Meron Mendel
David Bachar
Der Politikwissenschaftler Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Sein Haus vermittelt u.a. Strategien gegen Hass auf TikTok. Ein kostenloses e-Book namens "Safer TikTok" kann man auf der Website laden.
Mit Bildung gegen Antisemitismus
Mehr Basiswissen an Schulen über Nahostkonflikt
Der Politikwissenschaftler Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, appelliert an Schulen, Basiswissen über den Nahostkonflikt zu vermitteln. So könne es verhindert werden, dass falsche Informationen verbreitet werden, nicht zuletzt über Social Media bei Instagram und TikTok. Im Gespräch mit evangelisch.de berichtet er, wo dringend notwendige Diskussionen über Antisemitismus instrumentalisiert und durch Ressentiments unterbunden werden.

Der Politikwissenschaftler Meron Mendel ist Jude und hat ein vielbeachtetes Buch geschrieben (Über Israel reden, Verlag Kiepenheuer & Witsch). Darin zeigt er, wie verfahren die Israel-Diskussion in Deutschland ist. Als Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt ist er der Bildungsarbeit verpflichtet und wendet sich besonders an Schüler:innen und junge Erwachsene. Im Gespräch mit evangelisch.de beschreibt Mendel, wo Ressentiments den Hass gegenüber Juden und Muslime anheizen können. Mendel ist mit einer Muslimin verheiratet. 

Herr Mendel, es gibt einen Zuwachs an Antisemitismus in Deutschland, der äußert sich auch in Übergriffen auf Jüdinnen und Juden in Deutschland. Wie kam es dazu? 
    
Meron Mendel: Das ist leider nicht überraschend. Auch in den vergangenen Jahren war es so, dass es mehr und verstärkten Antisemitismus in Deutschland gab, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt in den Schlagzeilen war. Sowohl das Meldeportal Report Antisemitismus (RIAS) als auch das Bundeskriminalamt (BKA) haben dokumentiert, dass nach dem 7. Oktober diese Übergriffe deutlich zugenommen haben. Das BKA spricht von mehr als 2.000 Straftaten mit entsprechenden Bezügen, RIAS von durchschnittlich 29 antisemitischen Vorfällen pro Tag zwischen Anfang Oktober und Anfang November. Das ist sowohl quantitativ wie qualitativ erschütternd. Die Übergriffe gehen dabei von verschiedenen Gruppen aus, kommen von politisch linken, rechten oder islamistischen Kreisen. 

Gibt es auch einen Zuwachs von antimuslimischen Ressentiments? Und wer schürt sie?

Mendel: Auch hier lässt sich wohl leider eine Zunahme feststellen, teilweise etwa Angriffe gegen Moscheen. Während der Antisemitismus in verschiedenen Kreisen beheimatet ist, werden die antimuslimischen Ressentiments vornehmlich von der Rechten geschürt. So werden etwa die aktuellen – und dringend notwendigen – Diskussionen über Antisemitismus unter Muslimen instrumentalisiert für migrationspolitische Diskussionen, wenn etwa von "importiertem Antisemitismus" gesprochen wird. Gerade wenn man konkrete Probleme wirklich lösen will, verbieten sich diese Ressentiments.

Man hat den Eindruck, der Konflikt Israel/Gaza wirft immer mehr Schatten auch auf das Miteinander der Menschen in Deutschland. Es bilden sich Solidaritäten, die nur die eigenen Glaubensgeschwister im Blick haben. Was sind ihre Beobachtungen?   

Mendel: Zunächst muss man hier sagen, dass Palästinenser keine Glaubensrichtung sind. Das wird schon daran ersichtlich, dass es christliche Palästinenser gibt, auch wenn sie eine Minderheit sind. Und genauso ist Israel nicht mit dem Judentum gleichzusetzen ist. Aber natürlich ist es tendenziell so, dass die Solidaritäten entsprechend verteilt sind, zumindest mit einer gewissen Häufigkeit. Für beide Seiten, wenn wir das jetzt einmal so nennen wollen, gilt zudem, dass es doch auch intern größere Pluralität gibt, als auf den ersten Blick sichtbar wird. Die jüdische Gemeinschaft ist da gerade auch mit Bezug zu Israel heterogen und übt teilweise sehr drastische Kritik an der Politik in Israel. Das gilt für Palästinenser durchaus auch.

"Nicht jeder Boykottaufruf spricht Israel das Existenzrecht ab oder ist antisemitisch"

Wer in Deutschland mit der BDS, der Israel-Boykott-Bewegung spricht, dem wird schnell unterstellt, den Staat Israel in Frage zu stellen. Gibt es hier eine verengte Diskussion?

Mendel: Die BDS-Kampagne fordert, die "Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes [zu] beende[n]" und spricht damit Israel implizit das Existenzrecht ab.
Wie man mit Äußerungen von Einzelpersonen oder auch Unterschriften unter öffentliche Aufrufe umgeht, die teilweise auch Jahre zurückliegen, das muss man jeweils genauer anschauen. Nicht jeder Boykottaufruf spricht Israel das Existenzrecht ab oder ist antisemitisch. Man muss sie nicht teilen oder unterstützen, vor einer Beurteilung müsste man sie aber genau betrachten. 
Insgesamt ist BDS ein Kampfbegriff geworden und die Diskussionen sind hier sehr verengt. Das gilt sowohl für Befürworter wie Kritiker der BDS-Kampagne. Insofern sollte diese Debatte unbedingt mit mehr Sachverstand und differenziert geführt werden.

In Gaza sind im Zuge des Krieges gegen die Terrororganisation Hamas mehr als 20.000 Menschen umgekommen. Der Großteil Zivilisten. Vermissen Sie Solidarität auch mit Palästinensern? 

Mendel: Bei Demonstrationen auf den Straßen und auch in den Sozialen Netzwerken war und ist, denke ich, die ausgedrückte Solidarität mit den Palästinensern sehr groß, von Beginn an und bis heute. Daran scheint es mir nicht zu mangeln. Von Seiten der Politik war sicherlich unmittelbar am und direkt nach dem 7. Oktober die ausgedrückte Solidarität mit Israel und den Opfern des Hamas-Terrors sehr groß und deutlich. Aber recht schnell wurde auch Mitleid mit der leidenden Zivilbevölkerung im Gazastreifen ausgedrückt. Außenministerin Annalena Baerbock hat etwa gesagt, "dass es mir als Mutter das Herz bricht, wenn ich mir vorstelle, es wären meine Kinder, die derzeit ohne Wasser und Lebensmittel herumirren, um ihre Eltern zu suchen". 

Persönlich verspüre ich eine große Solidarität und Mitgefühl und finde die humanitäre Katastrophe unglaublich schlimm. Wie könnte einen dieses Leid kaltlassen? Das festzustellen und zu wünschen, dass das Leiden ein schnelles Ende findet, heißt aber nicht, dass man eine einfache, bessere Lösung hätte. Wie hätte Israel auf den 7. Oktober reagieren sollen? Einige haben schon eine Waffenruhe gefordert, noch bevor Israel überhaupt reagiert hat. Das ist skurril. Soll, kann, ein Staat derartige Angriffe wie die vom 7. Oktober einfach hinnehmen? Das sind schwierige Fragen und es gibt hier denke ich kaum einfache Antworten.

Ob die militärischen Mittel Israel völlig richtig waren und sind, ob das alles legitim ist, darüber kann man natürlich diskutieren und das passiert ja auch. Da kann ich vieles nicht wirklich beurteilen. Von außen betrachtet, scheinen aber auch mir die zivilen Opferzahlen sehr hoch und ich weiß nicht, ob Israels Militär alles getan hat, diese Zahlen möglichst gering zu halten.

Wie kann man sich gegenseitig die Hand reichen? Die wenigen Brückenbauer wie Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun, die jüdische und palästinensische Wurzeln haben und viel Schulen besucht haben, sind völlig ausgepowert. Was müsste passieren? 

Mendel: Es ist primär die Aufgabe des Schul- und Bildungssystems, auf diese Herausforderung zu reagieren. Die Lehrkräfte müssen fachlich und pädagogisch in der Lage sein, das zu leisten, auch die Lehrpläne müssten das ermöglichen.     
Inhaltlich geht es darum, überhaupt einmal basales Wissen zu vermitteln. Gerade wenn wir an Israel und Palästina, an den Nahostkonflikt denken, gibt es unheimlich viele falsche Informationen, gefährliches Halbwissen, das nicht zuletzt bei Instagram und TikTok verbreitet wird. Das macht es dann leicht, gerade auch Jugendlichen gefährlichen Unsinn zu erzählen. Wenn möglichst viele – nicht nur, aber vor allem in den Schulen – besser Bescheid wissen, könnte mancher Mythos korrigiert werden.

Welche Aktionen planen Sie in der Bildungsstätte Anne Frank, um mehr Schüler zu erreichen? 

Mendel: Wir setzen die Arbeit fort, die wir seit vielen Jahren machen. Direkt mit Schulklassen, auch ganz gezielt über die verschiedenen Sozialen Netzwerke. Und wie gesagt, geht es vor allem darum, dass Lehrerinnen und Lehrer, gerade auch diejenigen, die noch in Studium oder Referendariat sind und die kommenden Jahrzehnte unterrichten werden, hier Bescheid wissen.

Info: Download kostenloses E-Book der Bildungsstätte Anne Frank: "Safer TikTok - Strategien im Umgang mit Antisemitismus und Hassrede auf TikTok"