Wer mit der Kirche hadert, neigt dazu, sie zu verlassen. Der Trend zum Kirchenaustritt ist ungebrochen, wie aus der jüngst veröffentlichten Studie der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) hervorgeht. Nur noch 19,2 Millionen Menschen gehören einer evangelischen Landeskirche an.
"Austrittsgeneigt" sind der Umfrage zufolge auch Mitglieder von Freikirchen und Orthodoxe. "Freiheit und Selbstbestimmung stehen in Spannung zum christlichen Glauben", erklärt Jörg Berger aus Heidelberg dem Evangelischen Pressedienst (epd). Seit 20 Jahren begleitet der Psychotherapeut Menschen auch bei Sinn- und Glaubenskrisen.
Viele Menschen zweifelten an der Wirklichkeit Gottes, sagte er. Der Christ spricht von "Glaubenshindernissen", welche die Nähe zu Gott blockierten. Aus psychologischer Sicht handele es sich um "Schutzmechanismen".
"Stacheln", so nennt Berger die Schutzmechanismen. Dazu zählten unter anderem Vermeidung, Selbstüberforderung, Bestrafen, Selbstdarstellung oder Abwertung. In Seminaren und Vorträgen vermittelt Berger, wie durch Reflexion der Mechanismen die Gottesbeziehung gestärkt werden kann.
Auf Spuren nach mehr Nähe zu Gott begaben sich kürzlich Mitglieder der Freien evangelischen Gemeinde (FeG) in Bad Schönborn (Kreis Karlsruhe) bei einem Workshop Bergers. Beim Gedankenaustausch in der Pause fanden Klaus, Martin und Sandra, "die psychologische Brille auf den Glauben ist interessant". Klaus ergänzt: "Ich bin gläubig, aber reserviert. Von dem Seminar erhoffe ich mir mehr Begeisterung für meinen Glauben. Ich will an meinem Stachel arbeiten."
Zu viel Vorsicht verhindert gute Erfahrungen
"Im Umgang mit Menschen limitiert man sich durch den Mechanismus selbst, etwa durch Vermeidung, weil ich zu vorsichtig bin", erklärt Berger. "Da kann der Partner, der Freund noch so nett ein, ich verbaue mir gute Erfahrungen. In der Gottesbeziehung merke ich, dass Gott sich von meiner Vorsicht nicht abschrecken lässt", führt er aus.
Gott ermögliche etwa trotz "Vermeidungsstachel" Erfahrungen geistlicher Nähe, welche mit Menschen nicht möglich wären, weiß der Psychotherapeut. Er berichtet vom "Werben Gottes" in Gottesdiensten, "wo Menschen merken, dass andere Menschen sich längst abgewendet hätten", aber Gott drangeblieben sei. Die Erkenntnis "Ich habe zwar mehrere Jahre gebraucht, mich darauf einzulassen, aber Gott war da, und das hätte kein Mensch durchgehalten mit mir" stärke das Vertrauen in Gott, so Berger.
Mit Glauben und wissenschaftlichen Ansätzen der Psychotherapie beschäftigt sich der Familienvater seit seiner Studienzeit. In der evangelischen Kirche sozialisiert, kam er als Jugendlicher in Kontakt mit meditativen Taizé-Andachten. "Da gibt es eine Wirklichkeit, die berührt mich", erinnert er sich. Menschen mit aktivem Glaubensleben suchen den Psychotherapeuten mittlerweile gezielt auf.
Berger spricht die großen Fragen des Lebens an: Wozu bin auf der Welt, wofür möchte ich mich einsetzen mit meinem Leben über meine materiellen Bedürfnisse hinaus? "Wenn ich nur Menschen begleiten sollte, die keinen Glauben haben, würde mir etwas fehlen, der Psychotherapie würde die Sinndimension fehlen", betont Berger.
Die Seminarteilnehmer Wolfgang und Heinz haben ihren Sinn im Leben gefunden. "Es ist schwierig, sich allein durchs Leben zu tragen. Die Nähe zu Gott verbessert auch die Beziehung zu den Mitmenschen", sind sich die beiden einig. Die hohen Kirchenaustrittszahlen seien "eine Verarmung", ist Wolfgang überzeugt.