Ist Weihnachten mit Tannenbaum eine Selbstverständlichkeit? Dem ist nicht so, sagt der Soziologe Michael David. Er leitet das Zentrum Soziales und Beteiligung beim Diakonischen Werk der EKD in Berlin. Denn die behördlichen Regelsätze sind streng berechnet.
"Zum Beispiel Zimmerpflanzen sind gestrichen. Der Weihnachtsbaum fungiert unter Zimmerpflanzen. Zweidrittel der statistischen Ausgaben für Zimmerpflanzen sind der Weihnachtsbaum. Das bricht jedem Kind das Herz, wenn es keinen Weihnachtsbaum hat und wenn Weihnachtsgeschenke gar nicht vorgesehen sind", sagt David.
Denn zur Berechnung des Regelsatzes wird ein so genannter Warenkorb gepackt. Dort kommt hinein, was unbedingt zum Leben sein muss. Aber auch kein bisschen mehr. Berechnet wird er nach den unteren 20 Prozent der Einkommen in Deutschland. Im Ergebnis brauchen arme Kinder demnach nicht nur keinen Weihnachtsbaum, sondern bis zu ihrem sechsten Lebensjahr auch keine Bücher. Auch brauchen arme Kinder danach keine Haustiere. Selbst die Versorgung mit Malstiften gilt nicht als gesichert.
"Was wir im Moment erleben ist, dass eine Berechnung grundgelegt wird, die schon eine Vergleichsgruppe zu Rate zieht, die auch schon unterhalb des Existenzminimums lebt. Da werden Dinge wie das Eis im Sommer oder der Schwimmbadbesuch oder am Wochenende mit Freunden abgezogen. Was wir im Moment als Existenzsicherung haben, ist für Kinder mindestens 90 Euro zu niedrig", beklagt Maria Loheide aus dem Vorstand des Diakonischen Werkes in Deutschland.
Arme Kinder und Jugendliche brauchen 100 Euro mehr
Nach aktuellen Berechnungen der Diakonie bräuchten arme Kinder und Jugendliche im Schnitt sogar 100 Euro mehr Bürgergeld im Monat, wenn sie davon würdig leben wollen. Und noch mehr. Kinder und Jugendliche sind auch auf eine freizugängliche Infrastruktur angewiesen, sagt Sozialexperte Michael David: "Dazu gehört eine vernünftige Ganztagsbetreuung, ein kostengünstiges Schwimmbad; Schwimmkurse, wo die Kinder hingehen. Eine Bibliothek, wo genügend Arbeitsplätze sind, damit Kinder, die zu Hause keine Ruhe haben, dort ihre Hausaufgaben machen können. Genau diese soziale Infrastruktur fungiert gesetzlich meist kommunal unter ‚Freiwilligenleistung‘. Das heißt, die Kommunen sind nicht gesetzlich verpflichtet, diese Leistungen vorzuhalten. Und wenn dann Kommunen in der Haushaltssanierung sind, also arme Kommunen, wird dort als Erstes gestrichen, und es wird ihnen von den oberen Behörden so vorgegeben."
Auch armen Kindern und Jugendlichen sollte das ermöglicht werden, was in der Gesellschaft als "normal" gilt. "Die Europäische Union sagt, dass gewährleistet sein muss, was in dieser Gesellschaft als normal gilt. Normal ist zum Beispiel in Deutschland, dass ich einen Computer und Internetanschluss brauche, wenn ich Hausaufgaben in der Schule mache. Ich kann nicht sagen, das ist unnötiger Luxus. Ich muss auch telefonisch erreichbar sein. Ich muss die Möglichkeit haben, von A nach B zu kommen", ergänzt David weiter.
So ähnlich sieht das auch der katholische Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl, der auch Mitglied des deutschen Ethikrates ist. Allerdings müsse das, was Kinder und Jugendliche brauchen, gesellschaftlich ausgehandelt werden. Essen, Trinken, eine warme Wohnung seien natürlich lebensnotwendig. Aber ein Weihnachtsfest mit Tannenbaum? "Es ist mit Sicherheit nicht überlebenswichtig. Aber es ist wichtig, um Teilhabe in einer Gesellschaft zu haben. Ein sehr wichtiger Aspekt des Menschenwürdedenkens, den wir aus den UN-Konventionen für Menschenrechte kennen, ist, dass Menschen ein starkes Gefühl von Zugehörigkeit haben. Sie dürfen nicht nur nicht verhungern. Ich würde nicht automatisch der Diakonie recht geben, dass es auf jeden Fall ein Tannenbaum sein muss", sagt Andreas Lob-Hüdepohl.
Es wird bei den Ärmsten gespart
Findet diese Diskussion zum Wohle von Kindern und Jugendlichen überhaupt statt? Nein, sagt Andreas Lob-Hüdepohl. Er beobachtet, dass
in laufenden Haushaltsdebatten fast immer anders priorisiert wird. Kinder und Jugendliche und Bildungsinteressen würden meist weit zurück rutschen.
"Die Erhöhung des Bürgergeldes gleicht gerade mal die Inflation aus. Das gleiche sieht man beim Streit um die Kindergrundsicherung. Es gibt politische Tendenzen, bei den Ärmsten zu sparen. Die Spaltung in der Gesellschaft wird immer größer", warnt Maria Loheide von der Diakonie Deutschland.
Es gehe aber um viel mehr als nur den Tannenbaum zu Weihnachten. Denn wer bei Kindern und Jugendlichen Millionen spare, müsse später Milliarden für die Folgekosten aufbringen. Eine aktuelle OECD-Studie schätzt die gesellschaftlichen Gesamtkosten durch vergangene und aktuelle Kinderarmut in Deutschland auf jährlich etwa 3,4 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Dies sind über 100 Milliarden Euro.
"Wir müssen in die Kinder investieren. Die in den ärmsten Stadtteilen, die müssen am besten ausgestattet sein. Mit Lehrer:innen, mit Arbeitsmaterialien, mit Computern, mit Technik. Damit man schon im Kindergarten anfängt, einen Ausgleich zu schaffen und Chancen von Anfang an bietet. Es ist ein gesellschaftlicher Schaden, wenn man nicht in die Kinder investiert" warnt Loheide.
Doch bis dahin werden alle Jahre wieder wohl noch viele Jahre ins Land gehen. So bleibt auch Ende des Jahres 2023 armen Kindern und Jugendlichen kaum mehr übrig, als ohne Weihnachtsbaum zu Hause das alte Lied von Erich Kästner zu singen: "Morgen, Kinder wird's nichts geben! Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld! Morgen Kinder lernt für's Leben! Gott ist nicht allein dran schuld.
Gottes Güte reicht soweit… Ach, du liebe Weihnachtszeit!"