Blick auf das Fassadenkunstwerk "Dear Uwe x 30 Jahre Hinz&Kunzt" des Künstlers Aches
© Marcus Brandt/dpa
Denkmal für einen Obdachlosen: Das 400 qm große Fassadenkunstwerk des irischen Künstlers Aches am Musikerhaus in der HafenCity Hamburg. Das Bild zeigt den inzwischen verstorbenen dienstältesten "Hinz&Kunzt"-Verkäufer Uwe Dierks.
Obdachlose nicht vergessen
Verelendung auf der Straße stoppen
Obdachlose sind ihre Klientel. Die Hamburger Straßenzeitung Hinz&Kunzt ist die Lobbyorganisation der Wohnungslosen. Seit 30 Jahren. Zeit zu schauen, was gut gelaufen ist und was nicht funktioniert. Redakteur Jonas Füllner antwortet ausführlich den Fragen von evangelisch.de.

Seit 30 Jahren gibt es das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt – eines der größten Magazine mit einer monatlichen Auflage von rund 50.000 Exemplaren. Die Zeitschrift wurde vom damaligen Diakonie-Chef Stephan Reimers gegründet und trägt sich durch den Verkauf der Magazine, Anzeigen und Spenden selbst. Redakteur Jonas Füllner beantwortet im Interview mit evangelisch.de, was Hinz&Kunzt bislang bewegen konnte. 

Nach 30 Jahren Hilfe für Menschen auf der Straße sollte man meinen, die Lage für Obdachlose hat sich verbessert. Wie ist der Stand heute in Hamburg und bundesweit?

Jonas Füllner: Die Situation auf der Straße hat sich in den vergangenen Jahren eher verschlechtert als verbessert. Eine fünf Jahre alte Zählung der Stadt geht davon aus, dass rund 2000 Obdachlose in Hamburg leben – etwa doppelt so viel wie zehn Jahre zuvor. Bundesweite Zahlen werden bis heute nicht erhoben. Aber nicht nur die bloße Zahl ist erschreckend. Was uns große Sorge bereitet, ist der Gesundheitszustand der Menschen auf der Straße. Die Zahl derer, die schon viele Monate oder gar Jahre obdachlos sind, nimmt zu. Und das hat drastische Folgen: Die Menschen verelenden immer mehr.
 
Das Hamburger Straßenmagazin wird von rund 500 Obdachlosen und anderen armen Menschen verkauft. Was ermöglichen sie den  Verkäufer:innen des Magazins?

Füllner: Wir beschäftigen drei Sozialarbeiter:innen, die den Menschen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wir bieten Postadressen und verwalten bei Bedarf auch das Geld unserer Verkäufer:innen. Und es gibt auch heißen Kaffee und Tee kostenlos sowie die Möglichkeit sich zu duschen. Und selbstverständlich versuchen wir alle Menschen wieder von der Straße zu holen.

Warum müssen die Wohnungslosen ihr Magazin kaufen, um es dann zu verkaufen?

Füllner: Wir sind ein niedrigschwelliges Projekt: Wer neu zu uns kommt, erhält zum Einstieg zehn Magazine als Startkapital kostenlos und kann sofort loslegen. Alle weiteren Magazine müssen Verkäufer:innen für 1,10 Euro kaufen und verkaufen sie für 2,20 Euro weiter. Dieser Handel ist Kern unseres Hinz&Kunzt-Prinzips: So lernen die Hinz&Künztler:innen, wieder mit ihrem Geld zu haushalten, und gewinnen dadurch an Struktur und Stabilität.

Was bieten sie noch an?

Füllner: Am Hamburger Flughafen gibt es zudem das Projekt "Spende dein Pfand". Drei ehemalige Obdachlose arbeiten dort festangestellt als Pfandsammler.

In Hamburg wird man in der Bahn, auf dem Weg zum Einkaufen, überall um einen Euro angeschnorrt. Ist ein Nein auch okay?

Füllner: Jede:r muss selbst seinen Umgang mit bettelnden Menschen finden und sich überlegen, wie oft und wie viel man geben kann. Was aber klar seien sollte: Kein Mensch lebt ohne Grund auf der Straße, keine:r bettelt freiwillig. Und nicht ich, sondern der Bettelnde sollte entscheiden dürfen, ob er oder sie jetzt einen Kaffee oder Alkohol benötigt. Deswegen rate ich von Sachspenden ab und bitte darum, den Menschen lieber ein paar Groschen zuzustecken.

Als Lobby für die Armen haben Sie vor zwei Jahren ihr eigenes Haus gebaut. Warum?

Füllner: Wir haben immer davon geträumt, Geschäftsstelle und Wohnraum in einem Haus zu vereinen. Das ist uns jetzt dank der Unterstützung zweier Stiftungen gelungen, und wir sind sehr froh, dass wir unseren Verkäufer:innen mehr Platz, neue Sanitäranlagen und eine einladende Atmosphäre bieten können. Und dass Wohnraum für Obdachlose rar ist, ist ja bekannt. Bei uns im Haus haben jetzt mehr als 20 Menschen ein eigenes Zimmer in einer Wohngemeinschaft und die günstigen Mietverträge sind unbefristet. Darauf sind wir sehr stolz.

Wo kommen Sie nicht weiter?

Füllner: Eine Tagesöffnung des Winternotprogramms haben wir bislang nicht durchsetzen können, allen guten Argumenten zum Trotz. Seit Jahren fordern wir die, doch die Behörde stellt sich quer – selbst wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken. Sie argumentiert, dass die Gebäude gereinigt werden müssen und die Obdachlosen tagsüber Beratungsangebote wahrnehmen sollen. Aber niemand kann mir erzählen, dass die Reinigung der Gebäude vier Stunden in Anspruch nimmt. Und keine Obdachlose dieser Welt hat den Winter über jeden Tag über irgendein Beratungsgespräch, das sie wahrnehmen muss. 

Rund um den Hauptbahnhof und an U-Bahnstationen hat man den Eindruck es gibt eine steigende Verelendung auf der Straße. Stimmt dieser Eindruck?

Füllner: Ich wohne jetzt mehr als 20 Jahre in Hamburg und muss sagen, dass mir der Hauptbahnhof verglichen mit früher harmlos vorkommt. Aber Sicherheit wird sehr unterschiedlich empfunden und wenn sich Menschen dort unsicher fühlen, muss man das ernst nehmen. Ein Waffenverbot ist zu begrüßen. Wenn dann aber ein Alkoholverbot dazukommt und sich unsere Befürchtung bewahrheitet, dass verstärkt Obdachlose aus dem Hauptbahnhof gedrängt werden, sehe ich darin ein Problem.

Wie kann Abhilfe geschaffen werden?

Füllner: Vertreibung löst keine Probleme, sondern verlagert sie. Um die Menschen von der Straße zu holen, braucht es Wohnraum und für Suchtkranke entsprechende Hilfsangebote. Die Erkenntnis scheint auch beim Senat langsam anzukommen. Wobei ich befürchte, das wieder klein und nicht mutig gedacht wird. Wir erleben das bei der Pension für osteuropäische Wanderarbeiter:innen. Vom Grundgedanken ein super Projekt. Nur müssten derartige Pilotprojekte jetzt ausgeweitet werden und es muss gelingen, den Menschen eine dauerhafte Wohnperspektive zu bieten. Dafür müsste die Stadt unter anderem die Saga in die Pflicht nehmen, damit von den jährlich rund 7000 Neuvermietungen mehr Menschen in Not profitieren.

Was halten Sie von Rückführungen bettelnder Menschen in den Balkan? 

Füllner: Eine abstruse Vorstellung, die zum Glück nicht möglich ist. Betteln ist nicht verboten und dafür kann niemand belangt werden. Obdachlose aus den Westbalkanstaaten spielen in Hamburg zudem keine große Rolle – laut der Erhebung von 2018 liegt ihr Anteil unter Obdachlosen bei 1,5 Prozent. Sollte aber jemand von einer Abschiebung betroffen sein, sehe ich es wie die Nordkirche oder auch Teile der Hamburger Opposition, die einen Winterabschiebestopp einfordern.

Was wünschen Sie sich für 2024?

Füllner: Weniger Trauerfälle. Allein in diesem Jahr sind schon 14 Menschen auf der Straße gestorben. Stattdessen wünsche ich mir mehr mutmachende Meldungen. Wir alle haben ein großes Ziel: die Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen. Das mit Leben zu füllen und eben nicht nur eine Feuerlöscher-Politik wie jetzt am Hauptbahnhof zu betreiben, das bleibt eine große Aufgabe, für die Politik und Wohnungslosenhilfe gemeinsam streiten sollten.